Aus dem Lot geratene US-Bewertungen Entweder Aktien haben an Aussagekraft verloren – oder Anleihen
Die Schwierigkeit bei Aktien besteht darin, angesichts der enormen Bandbreite an Variablen, die die Zukunft eines jeden Unternehmens, ob neu oder alt, beeinflussen, ihren wahren Wert zu ermitteln. Das gilt insbesondere in einer sich rasch wandelnden Welt.
Die Tücken der Bewertung
Ich äußere mich selten über Bewertungen des Aktienmarkts, wie etwa die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der letzten zwölf Monate oder die zukünftigen Kurs-Gewinn-Verhältnisse. Der Hauptgrund dafür: Sie sind keine echten Maßstäbe für den eigentlichen Wert. Sie dienen lediglich als Vergleichsmaßstäbe für den relativen Wert innerhalb von Gruppen von Finanzanlagen. Es handelt sich um kurzfristige, mathematische Kennzahlen. Von Investoren werden sie oft überstrapaziert, weil sie nicht die Fähigkeit oder die Zeit haben, die tiefgreifenden inneren Abläufe eines Unternehmens und seinen Unternehmenswert vollständig zu durchdringen.
Ob öffentlich oder privat, ob Eigenkapital oder Fremdkapital – alle Risikowerte müssen den Anlegern eine Entschädigung für die Möglichkeit eines Kapitalverlusts bieten, aber auch für die Zeit der Kapitalbindung. Die Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn Sparer und Investoren für die Investition ihres Geldes entschädigt werden. Zinssätze stellen den Preis der Zeit dar und sind mit dem Wert jedes risikobehafteten Vermögenswerts verquickt. Das erklärt, warum es eine Beziehung zwischen Zinssätzen und Vermögensbewertungen gibt.
Die Entkoppelung von Anleihen und Aktien: Was übersehen die Märkte?
Die Korrelation zwischen den Renditen von inflationsgeschützten US-Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren und dem Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 ist nicht mehr das, was sie einmal war. Die dunkelblaue Linie in der Grafik, gemessen an der linken Achse, stellt die Rendite (invertiert) dieser Anleihen dar und dient uns als Indikator für die erwarteten Realzinsen in den USA. Die hellblaue Linie zeigt das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 (auf der rechten Seite) für die nächsten zwölf Monate.
Grafik 1: Entweder sind die realen Anleihenrenditen zu hoch, oder die Bewertungen von Aktien liegen weit über dem fairen Wert
Die Beziehung ist einfach: Wenn die Zinsen sinken, steigt der Wert zukünftiger Cashflows und treibt die Aktienbewertungen in die Höhe, was im Chart deutlich zu sehen ist. Die Pandemie-bedingten Lockdowns gaben den Zentralbanken den Freiraum für Maßnahmen der weiteren finanziellen Repression: Die Realzinsen fielen von Vorpandemie-Niveaus von etwa 1 Prozent in den Minuszinsbereich, wovon Risikowerte profitierten.
Die Korrelation funktioniert jedoch auch andersherum. Nach dem Inflationsschub des Jahres 2022 brachen die Aktienbewertungen ein, Anleger begannen Aktien zu meiden und schichteten in risikofreie Renditen um.
Unser Fokus liegt auf dem Bruch dieser Korrelation. Entweder liegen die Realzinsen zu hoch – oder die Aktienbewertungen liegen deutlich über ihrem fairen Wert. Mit anderen Worten, der Anleihemarkt sendet ein ganz anderes Signal als der Aktienmarkt.
Was übersehen die Aktienmärkte?
Das jahrzehntelange Paradigma von reichlichem, billigem Kapital, günstiger Arbeitskraft und niedrigen Kapitalausgaben, das die Gewinnmargen auf Rekordhöhen getrieben hat, ist zu Ende. Aktienanleger gehen jedoch davon aus, dass der Rückenwind für die Gewinne ungebremst anhalten werde.
Die unbequeme Wahrheit: Gegenwind für die Unternehmensgewinne
Die unangenehme Realität ist, dass Gegenwind für die Gewinne entstanden ist. Kredite sind knapp und teuer geworden. Obwohl die Unternehmensverschuldung aufgrund der nachlaufenden Gewinne in Ordnung erscheint, sollten Anleger den jeweiligen Verschuldungsgrad der Unternehmen genau in den Blick nehmen.
Auch Arbeitskraft ist inzwischen knapp und stellt einen erheblichen Kostenfaktor dar, der die zukünftigen Unternehmensgewinne beeinflussen wird. Im laufenden Jahr verzeichnen die USA durchschnittlich alle ein bis zwei Werktage einen Insolvenzantrag, da Unternehmen angesichts ihrer Verschuldung scheitern oder weil die Geschäftsmodelle in einer kapitalknappen Welt nicht mehr tragfähig sind. Die Arbeitskosten sollten sich zwar normalisieren, sobald ein Gleichgewicht wiederhergestellt ist, aber das kann ein langer Prozess sein. Bis dahin werden die Lohnkosten die Renditen belasten.
Was, wenn der Anleihenmarkt falsch liegt?
Könnte es indes sein, dass die Bewertungslücke auf einen KI-Bonus zurückzuführen ist, den Anleger am Anleihenmarkt unterschätzen? Durchaus möglich, denn die Wirtschaftsgeschichte hat immer wieder gezeigt, dass Produktivitätssteigerungen letztlich durch neuen Wettbewerb zunichtegemacht werden. Zwar profitieren Unternehmen zunächst von neuen Technologien und die eingesetzte Arbeitskraft kann mehr mit weniger personellen Ressourcen erreichen. Doch dann verändern neue Marktteilnehmer mit frischen Ideen die Branchendynamik, und die gewohnten Gewinne werden zunichte gemacht.
Disruptoren und Innovatoren nutzen neue Technologien für sich und untergraben die Wertschöpfung etablierter Unternehmen. Es ist davon auszugehen, dass künstliche Intelligenz zwar zu sprunghaften Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft führt, zugleich aber die Entstehung einer völlig neuen Unternehmensgruppe ermöglichen könnte – zum Nachteil bestehender Unternehmen, die bislang die Benchmarks dominieren. Für uns als Anleger folgt daraus: Unsere Überzeugung vom Wert des aktiven Managements ist unerschütterlich.
Kehren Zentralbanken in der nächsten Finanzkrise zu finanzieller Repression zurück?
Politische Entscheidungsträger könnten zukünftig zwar die Zinsen niedrig halten wollen, aber werden sie dazu auch in der Lage sein? Im Vergleich zu früheren Marktphasen sind die meisten Industrieländer mit Rekordverschuldungen im Verhältnis zum BIP und explodierenden Haushaltsdefiziten konfrontiert. Diese Faktoren könnten neue Probleme für die politischen Entscheidungsträger heraufbeschwören, da Regierungen – wie risikobehaftete Vermögenswerte – um das Kapital der Sparer und Anleger konkurrieren und sich dem Diktat des Anleihenmarkts nicht entziehen können.
Schlussfolgerung: Sachkundige Investoren sind im Vorteil
Die Zinssätze steigen oder fallen, aber das Paradigma der vergangenen Jahre hat sich verschoben: Es erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass die Zinssätze auf das extrem niedrige, vor der Pandemie gewohnte Niveau zurückkehren werden.
Was bringt das neue Paradigma mit sich? Selbst wenig leistungsfähige Unternehmen konnten bislang aufgrund des einfachen Zugangs zu Kapital überleben. Diese Zeiten sind jedoch vorbei; die Kapitalkosten steigen weiter an, was zu einer Belastung vieler Unternehmen führt. Vor dem Hintergrund des neuen Paradigmas werden Unternehmen scheitern und ihren Anteil an Wertschöpfung und Gewinnerzielung erfolgreicheren Unternehmen überlassen müssen.
Investoren, die verstehen, welche Unternehmen über echten Wert verfügen und welche nicht, werden im Vergleich zum breiten Markt deutlich im Vorteil sein.