Gerd Kommer und Daniel Ganowski Angst vor dem Allzeithoch – ein schädlicher Irrtum
Die oben genannten theoretischen Einwände gelten in Bezug auf Einzelwerte jedoch gleichermaßen: Jede Aktie mit einer im längerfristigen Mittel positiven Rendite, selbst einer besonders niedrigen positiven Rendite, erzeugt mehr oder weniger ständig neue AZHs – je nach Aktie und untersuchtem Zeitfenster zwischen 10 Prozent und 30 Prozent der Zeit.
Will man die Renditen ermitteln, die auf solche AZHs bei einzelnen Aktien historisch kurz- und mittelfristig folgten, sollte man allerdings nur Datenreihen von mindestens 30 Jahren Länge verwenden. Bei kürzeren Zeiträumen dominiert, im Falle von Einzelwerten, der Zufall – im Statistik-Jargon Noise genannt – ein etwaig vorhandenes Datenmuster. Insgesamt dürften AZHs auch bei Einzelwerten eher nutzlose Signale darstellen. Da wir aber nicht in einzelne Aktien investieren, hat diese nicht eingehend geprüfte Hypothese für uns selbst keine praktische Bedeutung.
Summa summarum sind unsere Feststellungen gewiss keine bahnbrechenden Erkenntnisse, die vorher völlig unbekannt waren. Warum ist das nutzlose oder schädliche AZH-Konzept in der Kommunikation und im Denken von Privatanlegern dennoch so erstaunlich präsent und populär? Aus unserer Sicht hat das folgende vier Gründe:
- Zunächst einmal ist das AZH-Konzept schön einfach – viel einfacher als echte Bewertungskennzahlen, wie die oben erwähnten. Derjenige, der die AZH-Daten produziert, hat damit nicht viel Arbeit. Derjenige, der sie konsumiert, muss nicht viel nachdenken.
- Zum Zweiten scheint das AZH, wenn man aus der Denkwelt von Konsumgütern kommt, als Indikator für „teuer“ Sinn zu machen. Leider ist das in diesem Fall die falsche Denkwelt.
- Zum Dritten kann eine ruchlose Finanzbranche mit der immer neuen Verbreitung des AZH-Pseudokonzepts die eigenen hochpreisigen, aktiv gemanagten Finanzprodukte und Anlagestrategien besser absetzen.
- Zum Vierten: Aus der Sicht der Finanzmedien kann man mit AZHs, die ja die willkommene Eigenschaft besitzen, sehr häufig aufzupoppen, irgendwie spannende, leicht verständliche Finanzgeschichtchen erzählen und so Auflage und Klickraten steigern.
Zum Schluss wollen wir noch zeigen, wie der in Finanzmedien verbreitete Typus einer Kursgrafik auf perfide Weise die Pseudobewertungskennzahl AZH transportiert – und so zur Desinformation von Privatanlegern beiträgt.
Irreführende Kursgrafiken
Die beiden folgenden Abbildungen 1 und 2 zeigen die Entwicklung des S&P 500 von Anfang 1950 bis Ende 2020. Beiden Abbildungen liegt exakt das gleiche Datenmaterial zugrunde. Über diese 71 Jahre hatte der Index in US-Dollar vor Kosten und Steuern eine nominale Rendite von 11,5 Prozent p.a. (real 7,8 Prozent p.a.). Abbildung 1 vermittelt implizit den Eindruck, dass der US-Aktienmarkt erst im letzten Drittel dieser sieben Jahrzehnte dramatisch angestiegen sei und daher Ende 2020 ein spektakuläres, scheinbar teures Allzeithoch erreicht habe.
1.200% Rendite in 20 Jahren?
Entwicklung des S&P 500-Aktienindex von 1950 bis 2020 (71 Jahre), in US-Dollar vor Kosten und Steuern – konventionelle arithmetische vertikale Achse
Startwert 1
Abbildung 2 liegen – wie erwähnt – die gleichen Daten wie Abbildung 1 zugrunde. Hier allerdings präsentiert mit einer logarithmischen, statt arithmetisch-linearen vertikalen Achse. So kommt korrekt zum Ausdruck, dass der prozentuale Anstieg des S&P 500-Index über diese 71 Jahre hinweg von Anfang bis Ende recht gleichförmig verlief. Von einem besonders geringen Zuwachs in den ersten 35 Jahren und einem besonders starken Zuwachs ab 2009 – wie Abbildung 1 irreführend suggeriert – kann keine Rede sein.
Entwicklung des S&P 500-Aktienindex von 1950 bis 2020 (71 Jahre), in US-Dollar vor Kosten und Steuern – logarithmische vertikale Achse
Startwert 1