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Anleger interessieren sich nicht für Nachhaltigkeit und ESG
Gut gemeint ist nicht unbedingt gut gemacht. Als die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen für Versicherungsvermittler praktisch über Nacht mittels einer EU-Verordnung zum 2. August 2022 eingeführt wurde, brandete branchenweit eine Welle der Kritik auf. Der Grund: Die Produktgeber hatten in vielen Fällen eine ESG-Einstufung ihrer Fonds und Versicherungsprodukte noch gar nicht vorgenommen. Falls die Kunden ihre ESG-Präferenzen mitteilten, konnten die Vermittler daher in vielen Fällen ihre neue Beratungspflicht gar nicht im Sinne des Gesetzgebers erfüllen.
Vermittlerverbände wie der AfW und Votum hatten sich daraufhin aktiv bei der Gestaltung von Beratungshilfen zu diesem Thema eingebracht. Vermittler nutzen heute Vorlagen vom Arbeitskreis Beratungsprozesse oder dem Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG). Auch die ESG-Datenbasis bei den Produktgebern hat sich sehr verbessert. Das kam den zunächst ausgenommenen Finanzanlagenvermittlern zugute, die ab 20. April 2023 ebenfalls zur Abfrage der ESG-Präferenzen ihrer Kunden verpflichtet wurden. Doch mehr als ein halbes Jahr später lässt sich sagen: In der Vertriebspraxis spielt das Prozedere offenbar nur eine untergeordnete Rolle.
Vier von fünf Kunden lehnen Abfrage nach Nachhaltigkeitspräferenzen ab
Dies belegt eine umfassende aktuelle Datenanalyse von Fondsnet, einem der führenden deutschen Maklerpools. Rund 600.000 aktive Konten von 6.000 mit Fondsnet verbundenen 34f-Vermittlern wurden ausgewertet. Stichtag der Auswertung ist der 30. September 2023. Laut der Fondsnet-Daten beantworten 78,7 Prozent der Kunden die Frage, ob ihre Nachhaltigkeitspräferenzen für die Beratung eine Rolle spielen sollen, mit „Nein“. Nur 21,3 Prozent der Kunden der Fondsnet-Vermittler sind demnach bereit, über ihre ESG-Präferenzen zu sprechen.
Die Daten zeigen: Vier von fünf Kunden, die ein Nachhaltigkeitsprofil ausfüllen, geben an, dass sie ESG nicht berücksichtigen wollen. Laut der gesetzlichen Vorgaben sollen sich Vermittler zwar absichern, dass der Kunde die Auswirkungen einer Ablehnung auf die ESG-Präferenz-Frage genau verstanden hat. Es wird aber nicht erwartet, dass der Kunde zur Nachhaltigkeit missioniert werden soll.
„Ob der Vermittler in diese Richtung berät oder ob der Kunde sich wirklich aktiv dagegen entscheidet, können wir technisch nicht auswerten“, sagt Georg Kornmayer, Geschäftsführer der Fondsnet. „Aber in Gesprächen mit Beratern haben wir häufiger gehört, dass Klimaschutz und Ökologie grundsätzlich befürwortet werden, aber wenn es an das eigene Portemonnaie geht und gegebenenfalls auf Rendite verzichtet werden muss, möchte man lieber frei sein in der Beurteilung der Produkte, die zu den eigenen Anlagezielen am besten passen“, so Kornmayer weiter.
Frauen sind interessierter als Männer an den ESG-Kriterien
Interessanterweise macht es einen Unterschied in der ESG-Frage, ob der Kunde männlich oder weiblich ist. Laut der Fondsnet-Daten liegt der Anteil der Frauen, die auf Nachhaltigkeit in der Beratung pochen, um mehr als ein Drittel höher als bei Männern. Jede vierte Frau (25,1 Prozent) will mit ihrem Berater über ESG-Kriterien sprechen, während lediglich 18 Prozent der Männer ein Gespräch über das Thema Nachhaltigkeit wünschen.
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Dieses Stimmungsbild passt zu anderen Erhebungen aus der Branche. So hatte das AfW-Vermittlerbarometer, für das Ende vergangenen Jahres rund 1.300 Vermittler online befragt wurden, ergeben, dass nur rund jeder zweite Kunde (53 Prozent) an Beratung zu nachhaltigen Finanz- und Versicherungsprodukten interessiert sei. 22 Prozent wollten nicht darüber sprechen und jedem vierten Kunden (25 Prozent) war das ESG-Thema egal. Zwei Drittel der befragten Vermittler verfügten über eine 34f-Erlaubnis.
Bafin bestätigt Reformbedarf bei der Regulierung
Neue branchenweite empirische Erhebungen wie von Fondsnet unterstreichen den Reformbedarf in dieser Frage. Schließlich sollte jede eingeführte Regulierung auch auf ihre gewünschte Wirkung in der Praxis evaluiert werden. Üblicherweise erfolgt dies erst nach einigen Jahren. Nun aber gibt es erste Anzeichen, dass die deutsche Aufsichtsbehörde nicht so lange warten möchte.
Erst kürzlich hat Mark Branson, oberster Aufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die EU-Taxonomie kritisiert. „Es gibt viel gut gemeinte Regulierung, die das Ziel verfehlt hat und uns teilweise in eine Sackgasse gebracht hat. Da müssen wir wieder raus“, sagte Branson laut Handelsblatt auf der Branchenkonferenz Euro Finance Week in Frankfurt. So sei die Frage, wie die Transformation der Wirtschaft zur Klimaneutralität finanziert werde, wichtiger als die Frage, wie man jede Aktivität der Menschheit kategorisiere.
Auch Fondsnet-Geschäftsführer Kornmayer unterstreicht, dass die äußerst differenzierten ESG-Bewertungskriterien den Komplexitätsgrad einer Beratung massiv erhöhen. Er zieht folgendes Fazit: „Was wir sicher sagen können, ist, dass mehr Informationen für den Kunden sicherlich nicht der richtige Weg sind. Wenn man es konsequent von den Basisinformationen und Beratungsdokumentationen bis hin zu den Produktinformationsblättern durchdenkt, ist der Kunde heute schon viele Stunden und Tage damit beschäftigt, sich durch die Informationsflut zu kämpfen, um ein sauberes Bild zu bekommen.“
Frank Rottenbacher, Vorstand des Bundesverband Finanzdienstleistung AfW, bestätigt: „Die Abfragepflicht der Nachhaltigkeitskriterien funktioniert in der Praxis nicht so wie sie gedacht war. Das liegt aber ausdrücklich nicht an den Vermittlern, sondern an den Vorgaben. Wir würden es begrüßen, wenn Vermittler hier künftig durch ein weniger aufwändiges und einfacheres Prozedere entlastet werden könnten.“ Eine Aussetzung oder Rücknahme der Regulierungsmaßnahme sei jedoch aktuell nicht vorstellbar.
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