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Wirtschaftswissenschaftler Holger Schäfer
Arbeit fällt als Wohlstandsquelle aus

Holger Schäfer ist Wirtschaftswissenschaftler. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln). Foto: IW
Die Zahl der Erwerbspersonen erreicht in Deutschland einen Höhepunkt, vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung steigt sie in Zukunft wahrscheinlich kaum noch. Der Arbeitsmarkt ist deshalb auf mittlere Sicht keine Quelle für Wohlstandszuwächse mehr, sagt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft.
Die Anzahl der Erwerbspersonen umfasst Erwerbstätige zuzüglich der Erwerbslosen und beschreibt den Kreis der Personen, die – erfolgreich oder nicht – aktiv am Arbeitsmarktmarkt teilnehmen. Zusammen mit der durchschnittlichen Arbeitszeit determiniert sie das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot – und damit die Menge an Gütern und Dienstleistungen, die maximal mit einer gegebenen Technologie und Kapitalausstattung produziert werden können. Sinkt die Anzahl der Erwerbspersonen und erfolgt keine Kompensation durch eine höhere Arbeitszeit, eine Reduzierung der Erwerbslosigkeit, mehr Kapitaleinsatz oder eine effizientere Technologie, reduziert sich der Wohlstand. Dies wird insbesondere dann zu Verteilungskonflikten führen, wenn die Bevölkerung insgesamt weniger stark schrumpft als die Bevölkerung im Erwerbsalter und in der Konsequenz jeder Erwerbstätige Einkommen für eine wachsende Anzahl nicht erwerbstätiger Personen erwirtschaften muss.
Seit 1991 ist die Anzahl der Erwerbspersonen um über 5 Millionen angestiegen, wobei verschiedene Zeitreihenbrüche einen langfristigen Vergleich erschweren. So sind insbesondere die Angaben aus dem Mikrozensus – eine von mehreren Quellen für die Bestimmung der Anzahl der Erwerbspersonen – ab 2020 nur bedingt mit Vorjahren vergleichbar (Statistisches Bundesamt, 2021a). Vor diesem Hintergrund kann zwar nicht abschließend beurteilt werden, inwieweit der aktuelle Rückgang der Erwerbspersonen in den Jahren 2020 und 2021 ein Resultat der Covid-Pandemie, ein statistisches Artefakt oder ein Resultat des Rückgangs der Bevölkerung im Erwerbsalter ist.
Gegen die These eines reinen Corona-Effektes spricht jedoch, dass in den betreffenden Jahren der Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung nicht gesunken ist, sondern weiter zunahm. Diese Erwerbsquote hätte abnehmen müssen, wenn sich Menschen wegen der Corona-Krise von Arbeitsmarkt zurückgezogen hätten. Auch die seit 2021 wieder anziehenden Stellenangebote sprechen gegen eine solche Vermutung: Personen aus der stillen Reserve, die nicht zu den Erwerbspersonen zählen, aber grundsätzlich an einer Erwerbstätigkeit interessiert sind, hatten schon im letzten Jahr gute Chancen für eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt.
Die parallele Betrachtung der Entwicklung von Erwerbspersonen und der Bevölkerung legt vielmehr nahe, dass der Rückgang der Bevölkerung immer weniger mit einer Erhöhung der Erwerbsneigung kompensiert werden kann (siehe auch Grafik).
Bis zum Jahr 2035 wird die Bevölkerung im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren um weitere 3 Millionen schrumpfen. Bei dieser Vorausberechnung ist bereits eine vergleichsweise hohe Nettozuwanderung von 420.000 Personen pro Jahr bis 2023 und 320.000 in den Jahren bis 2035 unterstellt (Statistisches Bundesamt, 2021b). Zwar konnte diese Größenordnung der Zuwanderung seit 2012 überwiegend erreicht werden, eine Garantie für kommende Jahre ist das jedoch nicht. Wollte man ein Absinken der Bevölkerung im Erwerbsalter verhindern, wäre das in der mittleren Frist nur durch eine noch höhere Zuwanderung erreichbar, als in der Projektion unterstellt ist.
Fuchs et al. (2021) schätzen, dass dafür ein jährlicher Wanderungssaldo von 400.000 erforderlich wäre. Angesichts einer durchschnittlichen Abwanderung von über einer Million pro Jahr in den letzten zehn Jahren müssten jährlich mithin brutto rund 1,5 Millionen Personen einwandern. Dies stellt hohe Anforderungen an die Zuwanderungspolitik – zumal das Potenzial der bisherigen Hauptherkunftsländer in Osteuropa aus demografischen Gründen ebenfalls schrumpft. So wird die Geburtenrate im Jahr 2030 in Polen bei 1,5 Kindern pro Frau, in Rumänien bei 1,7 und in Bulgarien bei 1,6 Kindern liegen. Diese Werte sind nicht höher als in Deutschland, wo knapp 1,6 Kinder zu erwarten sind.