Rückforderung von Kapitalertragsteuer BFH-Urteil: Was sollen die betroffenen Fonds jetzt tun, Herr Gnutzmann?
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs birgt Sprengkraft: Ausländische Fonds, die in deutsche Unternehmen investierten, haben ungerechtfertigt Kapitalertragsteuern auf deren Dividenden zahlen müssen. Und das über Jahre: Es geht um die Ausschüttungen der Jahre 2004 bis 2017. Das Problem: Deutsche Fonds waren im gleichen Zeitraum von der Steuer befreit – eine Ungleichbehandlung, die auf EU-Ebene eigentlich nicht vorkommen darf.
Nun könnten dem deutschen Fiskus saftige Steuerrückzahlungen ins Haus stehen – denn die Entscheidung des BFH, die bereits im März fiel, aber erst im August veröffentlicht wurde, betrifft potenziell Millionen von Anlegern.
Wie gelangt aber nun die zu viel gezahlte Steuer an die betroffenen Fonds zurück? Sollten sich Fondsgesellschaften aktiv um Rückzahlung bemühen? Und um welche Summen geht es überhaupt? Das beantwortet Steuerrechtler Steffen Gnutzmann von der Hamburger Kanzlei WTS Group im Interview.
DAS INVESTMENT: Der Bundesfinanzhof (BFH) hat kürzlich geurteilt, dass ausländische Investmentfonds jahrelang zu Unrecht Quellensteuer auf deutsche Dividenden gezahlt haben. Fonds mit einer DE-ISIN waren zur gleichen Zeit davon befreit. Was war da genau passiert?
Steffen Gnutzmann: Diese aktuelle Rechtsprechung aus dem März 2024 betrifft die Rechtslage von 2004 bis Ende 2017. Genau genommen fällte der BFH sogar zwei Urteile. Geklagt hatten ein französischer FCP und eine Luxemburger Sicav, die deutsche Kapitalertragsteuer, auch „Quellensteuer“ genannt, auf deutsche Dividenden zahlen mussten. Beide Fonds sind nicht irgendwelche Heuschrecken, sondern ganz normale, in Europa ansässige Wertpapierfonds. Im weitesten Sinne geht es in den Urteilen darum, dass in Europa ein einheitlicher Kapitalmarkt existiert. Kapital soll dahin fließen können, wo es am besten investiert ist, ungehindert von steuerrechtlichen Hürden oder Diskriminierungen. Das ist volkswirtschaftlich nützlich.
Was bedeuten die Urteile für Fondsgesellschaften, die auch betroffen sind, aber nicht geklagt haben: Können die jetzt einfach abwarten, und irgendwann bekommen sie ihre zu viel gezahlten Steuern zurück – oder müssen sie dafür aktiv werden?
Gnutzmann: Es geht um den Zeitraum zwischen 2004 und Ende 2017. Verjährungsfrist für derartige Ansprüche in Deutschland sind vier Jahre, daher ist es jetzt schon zu spät, noch eine Steuererstattung zu beantragen. Man hätte damals schon sagen müssen: „Ich wehre mich und stelle einen Antrag auf Rückerstattung, selbst wenn ich wenig Chancen darin sehe.“
Und wer damals innerhalb der Verjährungsfrist einen Antrag auf Erstattung gestellt hat, der muss jetzt nichts mehr tun?
Gnutzmann: Es hängt vom Appetit des Antragstellers ab, ob er abwartet oder das Problem bei den Hörnern packt. Man kann dasitzen und warten, bis die deutsche Finanzverwaltung agiert. Das wird sie vielleicht tun, vielleicht auch nicht. Dann stellt sich in ein, zwei, drei Jahren wieder die Frage, was man wohl tun will. Weil die Anträge ja gestellt worden sind.
Also meinen Sie, dass ohne aktives Zutun sich auch die Finanzverwaltung nicht rühren wird?
Gnutzmann: Es kann sein, dass die betroffenen Fondsgesellschaften ab und zu Anfragen von der deutschen Finanzverwaltung bekommen. Die Anfragen sind allerdings, soweit wir es von unseren Mandanten hören, sehr standardisiert. Sie sind auch alle aus dem Zeitraum von vor den zwei aktuellen Urteilen. Wie also die Finanzverwaltung bei ihren Anfragen gegenüber passiven Antragstellern weiter vorgehen wird, ist im Augenblick nicht absehbar.
Was kann eine betroffene Fondsgesellschaft denn tun, wenn sie beizeiten einen Erstattungsantrag gestellt hat und sich jetzt aktiv um Rückzahlung bemühen will?
Gnutzmann: Sie könnte sich überlegen, einen Untätigkeitseinspruch oder eine Untätigkeitsklage zu erheben. Diese zwei Wege können Betroffene grundsätzlich nehmen, um sich gegen eine relativ untätige Finanzverwaltung durchzusetzen.
Das klingt eher, als ob es ratsam sei, sich aktiv damit zu beschäftigen.
Gnutzmann: Genau. Sonst hat man es nicht aktiv in der Hand, sondern reagiert nur.
Wie könnte die Finanzverwaltung auf Rückforderungen reagieren?
Gnutzmann: Ich sehe zwei denkbare Verteidigungslinien. Sie könnte einerseits in Zweifel ziehen, ob der betreffende ausländische Fonds denn wirklich vergleichbar ist mit einem inländischen steuerbefreiten Fonds. Das ist denkbar, wird bei vielen Antragstellern aber nicht zu einem für die Finanzverwaltung positiven Ergebnis führen. Nach unserer Beobachtung unter den Regeln des Investmentsteuergesetzes 2004 bis Ende 2017 waren die allermeisten ausländischen Fonds vergleichbar.
Und die andere Möglichkeit?
Gnutzmann: Die zweite mögliche Verteidigungslinie der Finanzverwaltung wäre, dass der ausländische Investmentfonds, der Steuerrückforderungen stellt, nachweisen soll, dass er auch wirklich wirtschaftlicher Eigentümer der Aktien und der darauf gezahlten Dividenden zum Zeitpunkt der Ausschüttung war. Sonst könnte irgendjemand anderes einen Anspruch auf Erstattung von Quellensteuer haben, aber nicht der Fonds.
„Dass es zu weiteren Gerichtsverfahren kommt, halte ich für möglich“
Was heißt das für die Endanleger? Die können jetzt eigentlich nur abwarten, oder?
Gnutzmann: Sie meinen die Fondsinvestoren?
Ja, genau.
Gnutzmann: Es gibt unterschiedliche Investorentypen. Die Ogaw- beziehungsweise Ucits-Fonds werden in der Regel von Privatanlegern gehalten. Dass ein Privatanleger seine Asset-Management-Gesellschaft auffordert, etwas zu tun, wäre ungewöhnlich. Dagegen gibt es auch ausländische Spezialfonds, die mit inländischen vergleichbar sind und die vielleicht nur zwei oder drei Anleger haben. Diese haben viel größere Einflussmöglichkeiten auf ihre Kapitalverwaltungsgesellschaften. Hier mag es sich anbieten, bei der KVG nachzufragen, wie man dort damit umgehen will. Es ist natürlich auch eine Kostenfrage. Wer trägt eigentlich die Kosten im Fall der aktiven Antragsteller? Das Ganze ist nicht unkomplex, man wird Berater bezahlen müssen. Zahlt dafür also die Asset-Management-Gesellschaft oder der Investor?
Muss nicht die Steuerbehörde zahlen? Sie hat schließlich den Fehler gemacht.
Gnutzmann: Ja, wenn es zu Gerichtsverfahren kommt und diese positiv für die Investmentfonds ausgehen, dann werden ihnen die Kosten erstattet. Zumindest ein Teil davon. Denn möglicherweise sind die Berater teurer als es die Rechtsanwaltsgebührenordnung festgelegt. Erstattet werden nur die Kosten nach Gebührenordnung.
Glauben Sie denn, dass es überhaupt noch weitere Verfahren geben wird? Ist mit den beiden BFH-Urteilen nicht alles schon geklärt?
Gnutzmann: Der BFH hat nur bestimmte Rechtsfragen geklärt. Es bleiben Sachverhaltsfragen und auch andere Rechtsfragen offen. Dass es zu weiteren Gerichtsverfahren kommt, halte ich für möglich.
Und wenn die betroffenen Fonds etwas erstattet bekommen sollen: In welchem Zeitraum können sie mit dem Geld rechnen?
1.200% Rendite in 20 Jahren?
Gnutzmann: Das wäre ein Blick in die Glaskugel. Alles unter einem Jahr würde mich aber wundern.
Als Anleger könnte man sich jetzt überlegen, in einen betroffenen ausländischen Fonds zu investieren. Weil der ja auf absehbare Zeit eine Rückerstattung bekommt. Und dann geht der Kurs nach oben.
Gnutzmann: Das ist eine gute Frage. Rein theoretisch könnten sich Anleger alte Daten besorgen und dann spekulieren. Sich einen luxemburgischen, französischen oder italienischen Fonds mit umfangreichen deutschen Dividenden zum Beispiel im Jahr 2016 suchen. Und darauf hoffen, dass der Fonds damals Anträge auf Steuererstattung gestellt hat. Man müsste aber eine Menge Recherche betreiben. Und es gibt ja nicht nur physisch investierte Investmentfonds, sondern gerade bei den Indexfonds auch derivativ replizierende Fonds, die Swap-Verträge nutzen.
Die haben dann Pech gehabt, also haben gar keinen Anspruch auf Erstattung?
Gnutzmann: Die sind raus, weil sie gar keine Dividenden bekommen haben. Ökonomisch haben sie vielleicht eine Wertentwicklung, die einem physischen Dividendenstrom entspricht. Aber ein Zahlungsstrom unter einem Swap-Vertrag wird in Deutschland anders als der Zahlungsstrom unter dem Referenzwert betrachtet. Und es gibt ein weiteres Problem: Wem gehört eigentlich ein Erstattungsbetrag, der vielleicht im Jahre 2026 an einen Investmentfonds gezahlt wird und der von Dividendenzahlungen abhängt, die der Fonds vielleicht 2016 bekommen hat?
Interessanter Punkt.
Gnutzmann: Die Frage ist: Gehört der Zahlungsstrom den Investoren von 2016 oder denen von 2026? Oder vielleicht noch jemand anderem.
Wie könnte das in der Praxis entschieden werden?
Gnutzmann: Man könnte sich ansehen: Was hat die Fondsgesellschaft mit dem Zahlungsstrom, der zum Beispiel 2016 als Dividende eingetroffen ist und von dem unrechtmäßig deutsche Kapitalertragsteuer einbehalten wurde – was hat die Gesellschaft damit gemacht? Selbst wenn sie einen Antrag auf Erstattung gestellt hat, heißt das nicht, dass sie zwingend nach fondsaufsichtsrechtlichen Regelungen vorgegangen ist. Achtung: Wir sind jetzt nicht mehr im Steuerrecht, sondern im Fondsaufsichtsrecht. Nehmen wir mal an, dass die Fondsgesellschaft damals eine Forderung für den kommenden Erstattungsbetrag eingestellt hat – dann ist dieser Betrag ja immer schon im Nettoinventar des Fonds enthalten gewesen. Dann ist das, was jetzt passiert, nur noch die Einziehung einer Forderung. Und die Investoren von 2016 haben diesen Betrag eigentlich schon bekommen, nämlich in Gestalt eines leicht erhöhten Nettoinventarwertes, als sie ausgestiegen sind.
Aber dann hätte die Fondsgesellschaft damals sehr in die Zukunft und sehr optimistisch denken müssen. Es klingt doch unwahrscheinlich, dass Gesellschaften das gemacht haben.
Gnutzmann: Vermutlich ja. Ich bin Steuerrechtler und kein Wirtschaftsprüfer. Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob nach dem 13. März 2024 …
… dem Tag, als der BFH sein Urteil fällte …
Gnutzmann: …. und dem Termin im August 2024, als das Urteil veröffentlicht wurde – dass in diesen Monaten eine Fondsgesellschaft noch eine Rückstellung für die Erstattung der 2016er Kapitalertragssteuer eingebucht hat. Immerhin gab es da ja schon das Urteil, das ihnen bekannt gewesen sein könnte. Allerdings, wie ich schon sagte: Dieses Urteil hat nur bestimmte Rechtsfragen entschieden, vieles ist offen. Das hat auch der BFH erwähnt. Möglicherweise wird eine betroffene Fondsgesellschaft letztlich erst 2025, wenn sich der Nebel geklärt haben sollte, eine Forderung einbuchen. Und dann bekommen im Ergebnis die Investoren, die 2026 in den Fonds investiert haben, den Zuwachs an Nettoinventarwert. Der beruht dann zwar auf einem Ereignis, das 2016 eingetreten ist. Aber das lässt sich dann nicht vermeiden.
Es wurde schon laut vermutet, dass es sich bei den anstehenden Rückzahlungen um zweistellige Milliardenbeträge handeln könnte. Halten Sie das für realistisch?
Gnutzmann: Das ist eine Mutmaßung. Bei jeglicher Schätzung gibt es einfach sehr viele Unbekannte. Es könnte ein Milliardenbetrag sein. Ob zweistellig, lässt sich nicht sagen. Ich kenne von einigen unserer großen Mandate durchaus die Beträge, die dort im Feuer stehen. Man sollte aber auch mitbedenken: Es ist sehr fraglich, ob Investmentfonds wirklich schon 2005 damit angefangen haben, Anträge auf Steuerrückerstattung zu stellen. Möglicherweise haben Fondsgesellschaften auch erst 2008 oder 2010 damit begonnen, Rückerstattungen zu beantragen.
Kann es denn sein, dass die Anteilspreise von Fonds, die eine Steuerrückerstattung erhalten, dadurch auf einmal deutlich steigen werden?
Gnutzmann: Man muss zumindest bei den Publikumsfonds bedenken, dass diese häufig Milliardenvolumen haben. Da werden solche Beträge auf den Preis eines Anteils gesehen vielleicht kaum ins Gewicht fallen.
„Das Grundproblem Ungleichbehandlung tritt in Europa gar nicht selten auf“
Wie kam es denn überhaupt dazu, dass die Besteuerung bei inländischen und ausländischen Fonds so unterschiedlich lief?
Gnutzmann: Ich würde sagen: Fehler passieren. Das ist auch kein typisch deutscher Fehler, er kommt auch in anderen europäischen Ländern vor. Ich würde es als gesetzgeberisches Versehen in Anbetracht eines globalen Kapitalmarkts sehen. Steuerrecht ist nationales Recht. Der europäische Binnenmarkt und die Bedeutung der Kapitalverkehrsfreiheit waren damals einfach noch nicht so im Fokus. In Deutschland hat man die Ungleichbehandlung mit der Investmentsteuerreform Anfang 2018 abgestellt.
Was wurde da geändert?
Gnutzmann: Der Grundtenor bei der Änderung im Investmentsteuergesetz zum 1. Januar 2018 war, die Gleichbehandlung umzusetzen. Ausländische und inländische Fonds werden bezogen auf deutsche Quellensteuer seitdem grundsätzlich gleichbehandelt. Einige Marktteilnehmer sagen, dass auch die Neuregelung noch immer ausländische Investmentfonds diskriminiert. Aber die Lage ist jetzt auf jeden Fall erheblich ausgeglichener als zuvor.
Gab es schon mal einen ähnlichen Fall, in dem Steuern in dem Umfang zurückzuzahlen waren?
Gnutzmann: Ein anderer Fall ist Italien, da läuft im Grunde genommen dasselbe wie in Deutschland: Der italienische Staat hat Anträge auf Erstattung von Quellensteuer, die auf Ungleichbehandlung begründet waren, jahrelang liegengelassen. Jetzt entscheiden der EuGH und auch die italienische Gerichtsbarkeit gegen die italienische Steuerverwaltung. Und nun läuft die Maschine dort so langsam an, ähnlich wie in Deutschland. Es gibt ja auch noch andere Fälle der Diskriminierung. In Großbritannien wurde englischen Rentnern, die im Ausland lebten, die Rente verweigert. Oder Grenzpendlern zwischen Deutschland und Schweiz wurden zu hohe Steuern abgezogen. Das Grundproblem der Ungleichbehandlung tritt in Europa insgesamt gar nicht so selten auf.
Über den Interviewten:
Steffen Gnutzmann ist seit 2007 für die Hamburger Steuerberatungsgesellschaft WTS Group tätig. Er betreut schwerpunktmäßig inländische und ausländische Investmentfonds, Hedgefonds und Private-Equity-Fonds, ihre Anleger und Administratoren sowie deutsche und ausländische Banken. Zudem berät er auch zu spezifischen Kapitalmarktprodukten wie zum Beispiel Wandelanleihen und Optionen und bietet ausländischen Investmentfonds Beratung zum Aufsichtsrecht und Markteintritt an.
Gnutzmann ist seit 1999 als Rechtsanwalt zugelassen und war vor seiner Tätigkeit für WTS acht Jahre für eine große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Rechts- und Steuerberatung tätig.