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Brexit und die Folgen Wieso die EU bei jedem Ausgang des Referendums nur gewinnen kann

Mathilde Lemoine, Group Chief Economist bei Edmond de Rothschild
Mathilde Lemoine, Group Chief Economist bei Edmond de Rothschild
Fragen der Personenfreizügigkeit sind zwar exemplarisch für die Spannungen zwischen London und Brüssel, sie stellen aber nur die Spitze eines weitaus größeren Eisbergs dar. In seinen Verhandlungen mit anderen Staats- und Regierungschefs aus der EU konnte der britische Premierminister David Cameron eine Reihe seiner Forderungen durchsetzen, sei es in Wettbewerbs- und wirtschaftspolitischen Steuerungsfragen oder zum Thema des freien Personenverkehrs und der Sozialleistungen zugunsten von aus der EU zugewanderten Personen.

Brexit – Ein gedämpfter Schock

Der von einem Brexit ausgelöste wirtschaftliche und finanzielle Schock für Großbritannien lässt sich kaum ermessen, da David Cameron bislang Stillschweigen über seine politischen Maßnahmen zur Abfederung dieses Schocks bewahrt hat. Da die Bank of England einem Brexit mit Sicherheit nicht tatenlos gegenüberstehen würde, dürften sich seine Folgen auf einen Rückgang des britischen Bruttoinlandprodukts (BIP) um minus 1 Prozent innerhalb eines Jahres beschränken, um innerhalb von drei Jahren ganz zu verschwinden.

Andererseits steht jetzt bereits fest, dass sich die Struktur der britischen Wirtschaft grundlegend verändern dürfte, falls die Abstimmung vom 23. Juni zu einer Änderung des Eurosystems und einer Verlagerung der derzeit in Großbritannien ansässigen Abrechnungssysteme in die Eurozone führt. Derzeit werden in Großbritannien über Abrechnungssysteme Euro-Transaktionen in Höhe von durchschnittlich 130.000 Milliarden Euro pro Jahr abgewickelt (Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Europäische Zentralbank). Mit einer Standortauflage würden in der Eurozone neue finanzwirtschaftliche Tätigkeiten geschaffen, die Mittelzuflüsse aus Großbritannien auf sich ziehen würden. Tatsächlich sind in Großbritannien viermal mehr ausländische Banken vertreten als etwa in Deutschland. Das in Prozent des BIP ausgedrückte Gewicht des britischen Finanzsektors ist dagegen bloß doppelt so hoch. In der Annahme, dass 80 Prozent der europäischen Banken und 50 Prozent der weder britischen noch europäischen Banken sich in die Eurozone verlagern würden, um dort ihre Tätigkeit auszubauen, ist von einem Mittelzufluss in die Eurozone in Höhe von 680 Milliarden Pfund (860 Milliarden Euro) auszugehen. Dies entspricht 34 Prozent des britischen BIP und über 8 Prozent des BIP der Eurozone.

Pfund im freien Fall

In diesem Szenario könnte der Euro gegenüber dem Pfund Sterling um 34 Prozent steigen. Der reale effektive Euro-Wechselkurs, das heißt der Wechselkurs gegenüber einem Währungskorb, würde seinerseits um 10 Prozent bis 12 Prozent zunehmen. Die negativen Folgen für die europäische Exportwirtschaft ließen sich allerdings durch neue unkonventionelle Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) eindämmen. In erster Linie ist hier an Senkungen des Einlagensatzes zu denken. Aufgrund unserer Berechnungen gehen wir von einem BIP-Wachstum der Eurozone um 1,3 Prozent innerhalb von zwei Jahren aus.

Bei einem Verbleib Großbritanniens in der EU kann die Eurozone ab April 2017 den Standortwechsel der Abrechnungssysteme durchsetzen. Bis zu diesem Datum wäre das Schicksal Großbritanniens innerhalb der EU ungewiss. Dies dürfte die Investitionstätigkeit und die Bewertung des britischen Pfundes belasten; Seine Aufwertung gegenüber dem Euro könnte sich auf 4 Prozent beschränken, während der effektive Wechselkurs um 8 Prozent unter dem langfristigen Durchschnitt liegen dürfte.

Abrechnungssysteme als Dreh- und Angelpunkt

Mit seiner Forderung nach einem Vetorecht in Fragen der Eurozone erlitt Cameron Schiffbruch, obwohl ein solches Recht in den Augen der Briten von entscheidender Bedeutung ist: Tatsächlich empfindet die britische Bevölkerung in den letzten Jahren die immer engere Integration, die Verbesserungen der Governance der Eurozone sowie ihren faktischen Ausschluss von einer Reihe finanzieller und monetärer Entscheidungen als Zumutung. Anlass zu Unmut auf britischer Seite gab insbesondere die einseitige Absicht der EZB, Wertpapierabrechnungssystemen – den sogenannten „clearing systems“ – einen Standort in der Eurozone vorzuschreiben, um diesen für das europäische Finanzsystem und seine Stabilität maßgeblichen Systembestandteil voll und ganz ihrer Aufsicht zu unterstellen. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine rein technische oder finanzielle Frage, sondern um ein Thema von einer derart großen politischen und wirtschaftlichen Tragweite, dass es zu den Auslösern des Referendums zählen dürfte.

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