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Wie sich Rentenforscher ein alternatives Vorsorgemodell vorstellen

Die deutschen Lebensversicherer kalkulieren mit unfairen Sterbetafeln, die ihre Kunden systematisch benachteiligen. Diese Kritik äußerte Karl Michael Ortmann vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundes der Versicherten (BdV) auf der Wissenschaftstagung des Interessenvereins vergangene Woche im Hamburg. Es ist ein Dauerstreitthema zwischen Verbraucherschützern un Versicherern.
Harte Kritik an Versicherungsbranche
Die Deutsche Aktuarvereinigung als Berufsvertretung der Versicherungs- und Finanzmathematiker in Deutschland gehe von einer Lebenserwartung aus, die etwa siebeneinhalb Jahre über dem Vergleichswert des Statistischen Bundesamts liege. Als Folge fielen die Rentenleistungen zu niedrig aus, sagte der Aktuar und Professor für Mathematik an der Berliner Hochschule für Technik.

Die Versicherer begründen laut Ortmann ihre stark abweichenden Sterblichkeitsannahmen mit dem sogenannten Selektionseffekt: Nur Personen mit überdurchschnittlich hoher Lebenserwartung würden Rentenverträge abschließen.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) stützt diese These auf eine internationale Studie von Insurance Europe, wonach von den befragten Deutschen, die ihre Lebenserwartung oberhalb des Durchschnitts ansetzen, 77 Prozent Vorsorgemaßnahmen für das Alter treffen – rund zehn Prozentpunkte mehr als bei denjenigen, die persönlich mit einem relativ kurzen Leben rechnen.
Mythos: 100-jährige Rentner
Die Realität zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild, so der Tenor des Vortrags. Das von den Versicherern angenommene durchschnittliche Rentenbezugsalter von 92,5 Jahren erreichen nach Ortmanns Angaben gerade einmal 18 Prozent der Senioren. Noch drastischer: Nur magere drei Prozent der heute 67-Jährigen werden statistisch ihren 100. Geburtstag feiern – ein Alter, ab dem laut Verbraucherzentrale Hamburg manche Rentenempfänger überhaupt erst ihren vollständig angesparten Betrag zurückerhalten haben.
Von dieser unterstellten Fehlkalkulation profitierten nahezu ausschließlich finanziell bessergestellte Rentner, deren längere Rentenbezugszeit faktisch durch die früher versterbenden ärmeren Bevölkerungsschichten subventioniert wird. Ortmann sagt dazu: „Eine reiche Frau lebt deutlich länger als ein armer Mann“ – das Rentensystem zementiere so bestehende soziale Ungleichheiten.
Weiblich und alleinstehend als Risikogruppe für Altersarmut
Diese soziale Schieflage bestätigte auch Soziologieprofessorin Claudia Vogel von der Hochschule Neubrandenburg auf der BdV-Tagung. Sie verwies auf Daten des Robert-Koch-Instituts: Männer aus der obersten Einkommensschicht leben durchschnittlich 8,6 Jahre länger als ihre Altersgenossen aus der untersten Einkommensgruppe.
Besonders alarmierend sind Vogels Prognosen für weibliche Rentner. Frauen, die häufig weniger Beitragszeiten aufweisen und folglich geringere Rentenansprüche erwerben, tragen ein drastisch erhöhtes Armutsrisiko im Alter. Die Gefährdung steigt nochmals deutlich für alleinstehende Frauen – sei es durch Verwitwung, Scheidung oder als Folge des zunehmenden Singledaseins in der Gesellschaft. Bemerkbar mache sich die Rentenlücke häufig auch bei Frauen, die als Hinterbliebene nach dem Tod des Ehemanns allein in einer zu großen Mietwohnung leben.
Das Talsperren-Modell: Kollektive Sicherheit statt individueller Risiken
Als Gegenentwurf zum bestehenden System geht das Konzept von Oskar Goecke, Professor an der Technischen Hochschule Köln. Auf der BdV-Konferenz stellte er einen Ansatz vor, der Garantien ohne die Umwege über Lebensversicherer ermöglichen soll. Sein Erklärungsmodell: die Talsperre. Wie bei einem kontrollierten Wasserreservoir fließt in seinem System ein kontinuierlicher Strom von Renten aus einem gemeinschaftlichen Vermögenspool an die Leistungsempfänger.
Dieser Vermögenspool speist sich aus zwei Quellen – den individuellen Spareinlagen der Teilnehmer sowie einem kollektiven Reservefonds. Die gemeinsame Reserve fungiert als Puffer gegen Marktschwankungen. Bei Börsenbooms fließen Überschüsse in diesen Puffer, bei Markteinbrüchen wird daraus geschöpft, um individuelle Guthaben zu stützen. Ein Ausgleichssystem, das Stabilität mit Renditeorientierung verbinden soll, so der Wissenschaftler.
Pflichtvorsorge als Schlüssel zur Systemgerechtigkeit
Das Talsperren-Modell könnte seine volle Wirkung jedoch erst in einem verpflichtenden System entfalten, waren sich viele Konferenzteilnehmer einig. Ein zentraler Konstruktionsfehler der vor über zwei Jahrzehnten eingeführten Riester-Rente liege genau in ihrer Freiwilligkeit. Ein Obligatorium würde die demografischen Risiken auf breitere Schultern verteilen und die Notwendigkeit überhöhter Sicherheitspuffer beseitigen.
Ortmann kritisierte am Status quo unmissverständlich: „Die Langlebigkeitsannahmen sind zu konservativ – insbesondere für die ärmere Bevölkerung“. Bei einer Pflichtvorsorge für alle würde die statistisch kürzere Lebensdauer ärmerer Bevölkerungsgruppen zu einer gerechteren Verteilung der Rentenzahlungen führen. Die Versicherungsunternehmen könnten sich nach einer Darstellung vom komplexen Langlebigkeitsrisiko befreien und sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren: den Vertrieb ihrer Produkte.