Credit-Suisse-Investmentchef Burkhard Varnholt
„Disruptive Veränderungen überfordern unsere lineare Art zu denken“
Burkhard Varnholt, Anlagechef der Schweizer Großbank Credit Suisse und stellvertretender globaler Anlagechef. Foto: Credit Suisse Asset Management
Kapital allein schafft noch keine Werte. Erst in Verbindung mit guten Ideen entfaltet es eine Wirkung. Burkhard Varnholt, Investmentchef der Credit Suisse, erläutert an mehreren Beispielen die tief greifenden Auswirkungen technologischen Wandels und die Möglichkeiten der menschlichen Vorstellungskraft.
Kapital allein taugt nichts. Erst in Verbindung mit der Vorstellungskraft erwächst es zu einem Medium, das Werte schafft. Exakt diese Vorstellungskraft, diese Imaginationsfähigkeit, macht den Unterschied (s. Grafik "Gesellschaft 5.0 – Imaginationsgesellschaft").
Johannes Gutenberg hatte diese Imagination, als er in den 1450er-Jahren den Druck von Büchern mit Hilfe von Metalllettern erfand. Alfred Escher hatte sie, als er sich den längsten Eisenbahntunnel der Welt (durch den Gotthard) in den Kopf setzte − und das gigantische Bauwerk prompt realisierte. Die Gründungen der ETH und der Schweizerischen Kreditanstalt waren ebenfalls Produkte von Eschers Vorstellungskraft und Durchsetzungsfähigkeit.
Was...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Kapital allein taugt nichts. Erst in Verbindung mit der Vorstellungskraft erwächst es zu einem Medium, das Werte schafft. Exakt diese Vorstellungskraft, diese Imaginationsfähigkeit, macht den Unterschied (s. Grafik "Gesellschaft 5.0 – Imaginationsgesellschaft").
Johannes Gutenberg hatte diese Imagination, als er in den 1450er-Jahren den Druck von Büchern mit Hilfe von Metalllettern erfand. Alfred Escher hatte sie, als er sich den längsten Eisenbahntunnel der Welt (durch den Gotthard) in den Kopf setzte − und das gigantische Bauwerk prompt realisierte. Die Gründungen der ETH und der Schweizerischen Kreditanstalt waren ebenfalls Produkte von Eschers Vorstellungskraft und Durchsetzungsfähigkeit.
Was Gutenberg und Escher mit ihren Pioniertaten auslösten, lässt sich nicht in wenigen Sätzen sagen. Hier nur so viel: Gutenbergs Lettern machten Schriften leicht replizierbar und forderten in Europa das Denk- und Meinungsmonopol der kirchlichen Institutionen heraus. Gutenberg gab den Anstoss zur Renaissance in Europa und zur Entstehung einer humanistischen Gesellschaft. Escher erkannte das Potenzial eines Landes, das sich Mitte des 19. Jahrhunderts unter vielen Aspekten als europäisches Entwicklungsland präsentierte. Massenarmut, Hungersnöte und sterbende Kinder gehörten zum Alltag. Mit der Bildung des modernen Bundesstaats und einer fortschrittlichen Verfassung erhielt die Eidgenossenschaft 1848 eine ganz neue Ausgangslage. Der Weg vom europäischen Armenhaus zu einem der fortschrittlichsten und reichsten Länder der Welt war vorskizziert. Escher erkannte die Chancen und nutzte sie − zum Vorteil der Schweizer Bevölkerung.
Lineare Logik oft irreführend
Aus der Vergangenheit können und müssen wir lernen. Doch vor den Automatismen unseres Hirns müssen wir uns in Acht nehmen. Wenn in unserem Alltag ein Problem auftaucht, erinnern wir uns an einen ähnlichen Vorfall aus der Vergangenheit und leiten daraus eine Antwort für die Zukunft ab. Leider führt die lineare Logik unseres Hirns dazu, dass historische Entwicklungen einfach in die Zukunft fortgeschrieben werden. Die lineare Logik führt oft in die Irre. Disruptive Veränderungen, wie sie heute immer deutlicher spürbar sind, überfordern unsere lineare Art zu denken. Wir müssen lernen, mit Entwicklungen und Innovationen umzugehen, deren disruptive Sprengkraft ganze Gesellschaftsordnungen, Unternehmensstrategien und Geschäftsmodelle auf den Kopf stellt.
Einen denkwürdigen Vorgeschmack auf das Potenzial disruptiver Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten gab die Thematic Flagship ETH Conference, welche das Credit Suisse Asset Management im Dezember 2018 in der Robotikhalle der ETH Zürich durchführte. Es gab viel zu staunen. Von gedankenlesenden elektrischen Physiotherapeuten über intelligente Verkehrsführung bis hin zum Zahlungsverkehr der Zukunft. Die Frage, ob wir mit der Industrie 4.0 eine vergleichbare Umwälzung wie die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts erleben, liess sich nach dem Anlass mit einem klaren Ja beantworten.
Intelligente Landwirtschaft gegen Unterernährung
Auch in der Landwirtschaft wächst der Einsatz digital vernetzter Technologien mit fast zahllosen Automatisierungsmöglichkeiten. Einerseits erledigen Roboter und Drohnen die repetitiven Tätigkeiten wie Aussaat, Ernte oder Verpackung. Andererseits tragen sie dazu bei, den Ressourceneinsatz zu reduzieren. Intelligente Sensoren und Mikrochips des erfolgreichen Schweizer Technologie-Start-ups Miromico helfen zum Beispiel, den Wasserverbrauch bis um 50 Prozent zu verringern. Die Technologie wird buchstäblich im Boden versenkt und mit automatischen Bewässerungssystemen verknüpft.
Die Firma Blue River Technology, die seit 2017 zum Landmaschinenkonzern John Deere gehört, hat mit "See & Spray" eine auf Computer Vision, Robotik und Künstlicher Intelligenz basierende Technologie entwickelt, die bei der Bearbeitung des Felds jede einzelne Pflanze erfasst. Das System unterscheidet zwischen Saatpflanzen und Unkraut und regelt den individuellen Bedarf an Schutzmitteln automatisch. Die Robotikdüsen werden präzis auf das Unkraut gerichtet; die Pflanzen bleiben verschont. Im Gegensatz zur heutigen Praxis der flächendeckenden Besprühung werden unkrautfreie Flächen mit Herbiziden verschont.
Wie wichtig und dringend Innovationen in der Landwirtschaft sind, verdeutlichen die ernüchternden Zahlen zur weltweiten Entwicklung der Unterernährung und Hungersnot. Häufigste Ursachen für die Unterernährung sind zwar kriegerische Auseinandersetzungen und klimatische Einflüsse wie Dürren oder Überschwemmungen. Aber ohne Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft lässt sich "Kein Hunger", das zweite der 17 Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, nicht erreichen. Das Ziel beinhaltet eine Verdoppelung der landwirtschaftlichen Produktivität sowie der Einkommen von Kleinbauern bis 2030. Die Welternährungsorganisation (FAO) geht davon aus, dass allein in der asiatisch-pazifischen Region 486 Millionen Menschen unterernährt sind.
Roboter als willkommene Partner im Pflegebereich
Grosse Hoffnungen setzt man im Gesundheitswesen auf neue Technologie. Physiotherapie-Roboter lassen sich neuronal steuern, also über die Gedanken ihres Besitzers oder Anwenders. Der Roboter kann Querschnittsgelähmten helfen, die gelähmten Körperteile wieder neuronal, also über das Gehirn, zu steuern. Neben Start-ups sind auch Weltkonzerne wie Google, Amazon oder Apple ins Geschäft mit der Gesundheit – oder besser: mit der Krankheit – eingestiegen und vermarkten intelligent die Fülle ihrer gesammelten Daten. Die Chance? Verknüpft mit medizinischer Software und entsprechenden Datenbanken können die Internetriesen Ärzte und Patienten, beispielsweise Herz-Kreislauf- oder Diabetes-Patienten, weltweit rund um die Uhr unterstützen. Und dies oft schneller, günstiger und immer besser. Zugleich lauert hinter jeder Chance natürlich auch ein Risiko: In diesem Fall der Missbrauch von Daten und Informationen.
Es gibt viel für die metallenen Helfer zu tun, vom Warentransport nach Hause, über die Küchenarbeit bis hin zur Altenpflege. Besonders gilt das in Hochlohnländern oder in alternden Gesellschaften, also in Europa, Japan oder China. Das in der Schweiz langjährig verwurzelte Robotik-Unternehmen F&P Robotics gewann jüngst an der Shanghai Innovation Fair den Innovationspreis für seine kollaborativen Roboter, die in der Seniorenpflege und in der Physiotherapie eingesetzt werden. Seitdem exportiert das Unternehmen aus Zürich rasch wachsende Stückzahlen nach China.
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