Chefvolkswirt Thorsten Polleit
Europa in Schieflage
Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt bei Degussa Goldhandel. Foto: Degussa Goldhandel
Es gibt gute Gründe, die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank als Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung einzustufen. Dennoch: Ohne Hilfe des Geldinstituts droht dem Euro das Aus. Thorsten Polleit, Chefvolkswirt von Degussa Goldhandel, erklärt die volkswirtschaftlichen Hintergründe.
Im Zuge der Anleiheaufkaufpolitik der EZB und der nationalen Euro-Zentralbanken ist eine Situation entstanden, die die Abgrenzung zwischen der Preisfindung auf dem Primärmarkt und der auf dem Sekundärmarkt zum Verschwinden bringt, beziehungsweise in der die Preisfindung auf dem Sekundärmarkt von den Zentralbanken maßgeblich bestimmt wird. Die Folge: Die Konditionen im Sekundärmarkt bestimmen die Konditionen im Primärmarkt. Dazu die folgenden Überlegungen:
(1)Die Kursbildung der Anleihen im Primärmarkt erfolgt stets mit Blick auf den Sekundärmarkt: Die Teilnehmer im Primärmarkt werden für eine Anleihe nicht mehr bezahlen als den Preis, den sie mit der Anleihe im Sekundärmarkt...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Im Zuge der Anleiheaufkaufpolitik der EZB und der nationalen Euro-Zentralbanken ist eine Situation entstanden, die die Abgrenzung zwischen der Preisfindung auf dem Primärmarkt und der auf dem Sekundärmarkt zum Verschwinden bringt, beziehungsweise in der die Preisfindung auf dem Sekundärmarkt von den Zentralbanken maßgeblich bestimmt wird. Die Folge: Die Konditionen im Sekundärmarkt bestimmen die Konditionen im Primärmarkt. Dazu die folgenden Überlegungen:
(1)Die Kursbildung der Anleihen im Primärmarkt erfolgt stets mit Blick auf den Sekundärmarkt: Die Teilnehmer im Primärmarkt werden für eine Anleihe nicht mehr bezahlen als den Preis, den sie mit der Anleihe im Sekundärmarkt erzielen können. Wäre zum Beispiel der erwartete Preis der Anleihe im Sekundärmarkt 99 Euro, so würde niemand im Primärmarkt mehr als 99 Euro zahlen. Die erwarteten Kurse (beziehungsweise Zinsen) im Sekundärmarkt bestimmen folglich die Kurse (die Zinsen) im Primärmarkt.
(2) Die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken kaufen mittlerweile Euro-Staatsanleihen im Sekundärmarkt in großem Stil. Sie bestimmen dadurch in entscheidendem Maße die Zinsbildung auf dem Sekundärmarkt und damit folglich auch die auf dem Primärmarkt: Die Zentralbank fragt eine Anleihe im Sekundärmarkt nach, und das treibt deren Kurs in die Höhe (im Vergleich zu einer Situation, in der die Zentralbank nicht als Käufer auftritt). Entsprechend fallen die Anleihekurse (Anleiherenditen) im Primärmarkt höher (niedriger) aus, als sie ohne den Eingriff der Zentralbank ausfallen würden.
(3) Die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken treten als Käufer für nahezu alle Laufzeiten auf. Daher unterliegen auch die Kreditkonditionen für nahezu alle Laufzeiten im Sekundärmarkt maßgeblich dem Einfluss der Zentralbankpolitik; und entsprechend fallen die Konditionen im Primärmarkt aus. Die Frage drängt sich auf: Setzen die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken „durch die Hintertür“ die Zinskonditionen im Primärmarkt? Und wenn ja, hieße das ökonomisch gesehen nicht auch, dass die Zentralbanken gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen, wie es in Artikel 123 AEUV niedergelegt ist?
(4) Man könnte an dieser Stelle einwenden: Die Käufe der Zentralbanken sind betragsmäßig nicht unbegrenzt, sondern begrenzt. Zum Beispiel verkündete die EZB am 22. Januar 2015, sie werden pro Monat Anleihen von Eurostaaten und EU-Institutionen in Höhe von 60 Milliarden Euro bis September 2016 kaufen. Folglich konnten die Investoren nicht versichert sein, dass die Zentralbank im Fall der Fälle alle angebotenen Anleihen kaufen wird. So gesehen hat die Zentralbank zwar die Marktpreisbildung der Anleihen beeinflusst, aber sie hat sie nicht vollends ausgehebelt – denn zumindest etwas Unsicherheit war für die Investoren verblieben. So gesehen war der Primärmarkt zwar geldpolitisch beeinflusst, aber er büßte seinen Bezug zur Marktrealität nicht vollständig ein.
(5) In der Praxis reihen die Zentralbanken jedoch ein Anleiheaufkaufprogramm an das andere, sie verlängern und erweitern bestehende Kaufprogramme. Das beeinflusst die Markterwartungen ganz entscheidend: Die Marktakteure können mit guten Gründen darauf wetten, dass die Zentralbanken, wenn sie erst einmal Staatsanleihen aufgekauft und ihre Aufkaufprogramme Stück für Stück erweitert haben, sich nicht so ohne weiteres von dieser Politik abkehren werden.
Über den Autor