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ETF-Experte über China „Der aktuelle Optimismus beruht auf Fundamentaldaten und nicht auf flüchtigen Hoffnungen“

Marcus Weyerer
Marcus Weyerer: Die größten Chancen in China ergeben sich aus der staatlichen Unterstützung, einer Erholung des Technologiesektors und der Klimawende. | Foto: Franklin Templeton

DAS INVESTMENT: Herr Weyerer, geben Sie uns bitte einen kurzen Einblick: Wo steht der chinesische Aktienmarkt jetzt?

Marcus Weyerer: Chinesische Aktien legten ein beeindruckendes Comeback vor, nachdem sie im dritten Quartal des vergangenen Jahres auf den tiefsten Stand seit mehreren Jahren gefallen waren. Im Oktober 2022 sank der breite FTSE China 30/18 Capped Net Index auf fast 10.000 Zähler und damit auf ein Niveau, das seit der Zeit nach dem Platzen der Spekulationsblase von 2015 nicht mehr verzeichnet worden war. Gleichzeitig lag er damit etwa 23 Prozent unter dem Tief aus der Zeit des Handelskriegs zwischen den USA und China im Jahr 2018. Eine weltweit positivere Haltung gegenüber Risikoanlagen, die Kehrtwende bei Chinas Null-Corona-Politik und die wachsende Hoffnung auf eine weichere Landung der US-Wirtschaft katapultierten den Markt dann, gemessen am FTSE China 30/18 Capped Index, bis Ende Januar dieses Jahres um etwa 60 Prozent nach oben. Chinesische Aktien notieren zudem erstmals seit dem Sommer 2021 über ihrem gleitenden 200-Tages-Durchschnitt.

Anleger, die mit einem (Wieder-)Einstieg liebäugeln, sollten sich aber dennoch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, oder?

Weyerer: Die Beziehungen zwischen den USA und China bleiben höchst angespannt, zwischen den beiden Supermächten gibt es verschiedene ungelöste direkte und indirekte Meinungsverschiedenheiten. Vor diesem Hintergrund ist mit weiterer Volatilität am Markt zu rechnen.

Dessen ungeachtet scheinen sich die längerfristigen Aussichten für chinesische Aktien kontinuierlich zu verbessern. Kann die Erholungs-Rally bei chinesischen Aktien, die seit Ende des vergangenen Jahres zu beobachten ist, weitergehen?

Weyerer: Wir gehen davon aus, ja. Kurzfristig sieht der Markt etwas überkauft aus und Rücksetzer sind möglich. Nach massiven Einbrüchen – wie von 2021 bis Oktober letzen Jahres zum Beispiel – sind länger anhaltende Kursanstiege an chinesischen Aktienmärkten aber nichts Ungewöhnliches. Wenn man die drei großen Phasen von Kursrückgängen vor 2021 analysiert – die globale Finanzkrise, das Platzen der Blase von 2015 und die Zeit nach dem Handelskrieg zwischen den USA und China im Jahr 2018 – dann sieht man, dass der Zeitraum 2021/2022 weit länger dauerte als alle anderen dieser vorherigen Baisse-Phasen.

 

Darüber hinaus haben chinesische Aktien im aktuellen Zyklus zwischenzeitlich mehr als 60 Prozent gegenüber ihrem Allzeithoch nachgegeben – nur während der globalen Finanzkrise wurde mit 75 Prozent ein stärkerer Einbruch verzeichnet. Die beiden anderen Phasen dauerten weniger als halb so lang und die Verluste waren mit 30 bis 40 Prozent weniger hoch. Wenn wir also die globale Finanzkrise als den einzigen echten Präzedenzfall der jüngeren Vergangenheit nehmen, dann lässt sich sagen, dass die aktuelle Hausse-Phase, die wir seit rund drei Monaten erleben, noch einige Zeit andauern könnte. Aktuell verzeichnen einige der Indexschwergewichte, die am stärksten unter Druck geraten waren, darunter die Technologie- und Konsumgiganten Tencent und Alibaba, die steilsten Comebacks; sie haben sich gegenüber ihrem jeweiligen Tief um 99 beziehungsweise 71 Prozent verteuert.

Ihre Einschätzung: Hält dieser Trend an?

Weyerer: Peking kann zur wirtschaftlichen Unterstützung an mehr Stellschrauben drehen als die meisten Regierungen der Industrieländer, denken wir nur an die politische Kehrtwende bei der Null-Corona-Politik des Landes. Die Wiedereröffnung der Wirtschaft wird zwar weiterhin für Herausforderungen sorgen, stellt aber trotzdem für die Wirtschaft, auch in der Region, eine wichtige positive Wende dar. Wenn sich der inländische und internationale Tourismus und das verarbeitende Gewerbe erholen, dann wird sich das, nebenbei gesagt, auch in einigen Nachbarländern – wie dem wichtigen Handelspartner Südkorea – bemerkbar machen. Die jüngsten Daten, zum Beispiel der wichtige Einkaufsmanagerindex des verarbeitenden Gewerbes, waren zudem sehr erfreulich. Der PMI kletterte auf ein Niveau von 52,6 – deutlich in einem Bereich, der Expansion anzeigt, und so hoch wie seit 2012 nicht mehr.

Inwiefern hilft die Geldpolitik, um die angesprochenen Herausforderungen zu bewältigen?

Weyerer: Anders als ihre Pendants im Westen verfolgt die chinesische Zentralbank seit einiger Zeit einen geldpolitischen Lockerungskurs. Die Inflationserwartungen für 2023 sind weiterhin moderat. Die Konsensprognosen gehen laut Bloomberg für das erste Quartal von einer Inflation von 2,7 Prozent aus, im Schlussquartal wird mit einer Abschwächung auf 2,0 Prozent gerechnet. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich diese Erwartungen verändern, wenn die lokale Wirtschaft weiter so an Fahrt gewinnt. Im Vergleich zu der Lage in den USA und Europa befinden sich China und die geldpolitischen Entscheidungsträger der People's Bank of China (PBOC) aber wohl in einer beneidenswerten Position.

Schaut man jedoch auf die geopolitische Situation, könnte es manchen Anlegern als nicht opportun erscheinen, in China zu investieren.

Weyerer: Die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und China sind schon seit einiger Zeit angespannt. Zuletzt dürften sie einen Tiefpunkt erreicht haben, als US-Außenminister Antony Blinken eine Reise nach Peking kurzfristig absagte. Doch es gibt auch ermutigende Anzeichen für eine Verbesserung der Beziehungen. Etwa die Tatsache, dass ein China-Besuch von Außenminister Blinken überhaupt geplant war – und immer noch geplant ist. Ein weiteres Anzeichen ist das jüngste Treffen zwischen US-Finanzministerin Janet Yellen und Chinas Vizeministerpräsident Liu He in Zürich, dem wiederum zwei Monate vorher ein Treffen zwischen US-Präsident Biden und Chinas Premier Xi auf Bali vorangegangen war.

Kurz gesagt, man spricht weiterhin miteinander?

Weyerer: Die diplomatischen Kanäle werden offengehalten, auch wenn der tatsächliche politische Kurs der USA gegenüber China hart bleibt. Dies zeigt sich unter anderem an den Exportbeschränkungen für fortschrittliche US-Technologie wie Halbleiter und Ausrüstung. Dabei ist es wichtig, die Dinge weiterhin im richtigen Blickwinkel zu sehen. Trotz des Handelsstreits von 2018, der globalen Pandemie, des Kriegs in der Ukraine, der aufgeheizten Rhetorik rund um zahlreiche geopolitische Problembereiche und des häufig diskutierten Themas der „Entkopplung“: Die gegenseitige Abhängigkeit der größten und der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hat sich – zumindest bisher – eher verstärkt. Im Jahr 2022 kletterten die Handelsbeziehungen zwischen den USA und China auf einen Rekordwert von 691 Milliarden US-Dollar, dabei stiegen unter anderem die Importe Chinas in die USA um 6,3 Prozent.