In einer ungewöhnlichen Abfolge hat die chinesische Zentralbank, People’s Bank of China (PBOC), die Leitzinsen gleich zweimal kurz hintereinander gesenkt. Diese überraschenden Schritte haben nicht nur an den Märkten für Aufsehen gesorgt, sondern werfen auch Fragen über den Zustand der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auf. Ist der Deflationsdruck in China stärker als bisher angenommen? Und wie reagieren internationale Investoren auf diese Entwicklungen?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir exklusiv zwei erfahrene Asset Manager befragt. Sie geben uns ihre Einschätzungen zu den jüngsten Zinssenkungen, teilen ihre Strategien für Investitionen in China und verraten, welche Sektoren sie trotz der aktuellen Wirtschaftsschwäche für attraktiv halten.
Zinssenkungen „nicht besonders überraschend“
Paul Jackson, Globaler Leiter des Asset Allokation Research bei Invesco, bringt eine differenzierte Perspektive in die Diskussion um die jüngsten Zinssenkungen der chinesischen Zentralbank ein. Im Gegensatz zu manchen Marktbeobachtern interpretiert er die Maßnahmen als wenig überraschend. „Angesichts der Tatsache, dass in diesem Jahr bereits mehr als 25 Zentralbanken die Zinssätze gesenkt haben [...] ist dieser Schritt der PBOC nicht besonders überraschend.“
Außerdem sei er nicht sicher, ob er China als Land mit deflationärem Druck einstufen würde. Zwar sei die Inflation niedrig, „aber das Anstreben einer höheren Inflation ist eine riskante Strategie, wie man in den letzten Jahren in den westlichen Ländern feststellen konnte.“ Jackson argumentiert, dass die chinesische Wirtschaft mit einem realen BIP-Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr „nicht in einer Deflationsflaute zu stecken“ scheine.
Langfristig gute Wachstumsaussichten für China
Die aktuellen Spannungen zwischen den USA und China haben laut Jackson kaum Einfluss auf seine Investitionsstrategie für chinesische Vermögenswerte. „Ich finde die Bewertung chinesischer Aktien (zum Beispiel im Vergleich zu US-Aktien) so überzeugend, dass ich bereit bin, über solche Spannungen hinwegzusehen“, betont er. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass Handelsbeschränkungen beiden Seiten schaden.
Trotz der demografischen Herausforderungen sieht Jackson weiterhin gute langfristige Wachstumsaussichten für die chinesische Wirtschaft. Er ist der Meinung, dass Chinas Entwicklungsgeschichte jedoch noch nicht abgeschlossen sei „und die Zuwächse beim Pro-Kopf-BIP werden wahrscheinlich weiterhin die der Konkurrenzländer übertreffen.“
Ein weiterer Grund für seinen Optimismus ist die günstige Bewertung chinesischer Aktien im Vergleich zu anderen Märkten. „Ende Juni 2024 lag das CAPE (zyklisch bereinigtes KGV) für chinesische A-Aktien bei 13,7 (nahe dem historischen Tiefstand von 12,4), gegenüber 39,2 für den US-Markt“, unterstreicht er. Jackson ist der festen Überzeugung, dass die wichtigste Determinante für die Rendite einer Anlage der Preis ist, zu dem sie in das Portfolio aufgenommen wird. Darüber hinaus glaubt er, dass China eine zunehmende Anzahl von High-Tech-Sektoren dominieren wird.
Weitere staatliche Unterstützung nötig
Kevin You, Portfolio Manager bei Allianz Global Investors, geht davon aus, dass „die Wirtschaft höchstwahrscheinlich weitere staatliche Unterstützung benötigen [wird], um wieder in Schwung zu kommen, wenn das diesjährige BIP-Ziel von ,rund 5 Prozent' erreicht werden soll.“
Trotz der aktuellen Herausforderungen plant er keine signifikanten Portfolioanpassungen, da die Auswirkungen des schwächeren Immobilienmarktes bereits seit einiger Zeit spürbar sind. Stattdessen setzt er auf Unternehmen der „Old Economy“ mit steigendem freien Cashflow sowie auf strukturelle Wachstumsbereiche wie Stromnetze, Halbleiter und KI.
Langfristiger Optimismus trotz aktuell geringer Wertentwicklung
Die geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China sind für den Portfolio Manager ein wichtiger Faktor bei seinen Entscheidungen, bieten aber auch Chancen für einheimische Unternehmen in strategisch wichtigen Sektoren wie der Halbleiterindustrie.
Langfristig bleibt You optimistisch für die chinesische Wirtschaft und betont das Potenzial des Landes in Bereichen wie Infrastruktur, Technologie und erneuerbare Energien. Trotz der aktuell geringen Wertentwicklung sieht er weiterhin gute Gründe, in China zu investieren, und ist überzeugt, dass „China ein Comeback feiern wird, es ist nur eine Frage des ,Wann' und nicht des ,Ob'.“
Gleicher Konsens trotz anderer Sichtweisen
Trotz Meinungsverschiedenheiten in der Bewertung der Zinssenkungen sind sich die Experten einig, dass China langfristige gute Wachstumsaussichten hat. Trotz der differenzierten Sichtweisen im Handelskonflikt zwischen den USA und China im Bezug auf ihre Anlagestrategie sind You und Jackson der Meinung, dass die zweitgrößte Weltwirtschaft auch weiterhin attraktive Investitionsmöglichkeiten bieten.

