Christian Jasperneite, Investmentchef von M.M. Warburg & Co.
Warum sich die Kritiker der europäischen Sparpolitik gewaltig irren
Aktualisiert am 28.01.2021 - 11:14 Uhr

Christian Jasperneite ist seit Anfang 2009 Investmentchef der Privatbank M.M. Warburg & Co. Foto: M.M. Warburg & Co
Europa diskutiert seit Jahren mal mehr, mal weniger über den Sparkurs und ob es nicht besser sei, den Staaten eine kurzfristige Neuverschuldung zu ermöglichen, um nach induziertem Wachstum langfristig Schulden abzubauen. Dass das nicht funktionieren kann, erklärt Christian Jasperneite von der Privatbank M.M. Warburg & Co.
Zurück auf die Schulbank
Wer allerdings in VWL-Vorlesungen im ersten oder zweiten Semerster gut aufgepasst hat, weiß eigentlich, dass genau dies auch theoretisch gar nicht funktionieren kann. Denn leider werden in der Diskussion schon grundlegende Begrifflichkeiten durcheinandergebracht. Wenn in diesem Kontext umgangssprachlich von „Wachstum“ die Rede ist, wird eigentlich etwas anderes gemeint: Es geht hier um konjunkturelle Effekte und damit um den Auslastungsgrad einer Volkswirtschaft. Und natürlich steigt tendenziell der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials, wenn temporär die Schulden steigen. Das führt dann auch tatsächlich für einige Quartale zu einer wirtschaftlich...
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Zurück auf die Schulbank
Wer allerdings in VWL-Vorlesungen im ersten oder zweiten Semerster gut aufgepasst hat, weiß eigentlich, dass genau dies auch theoretisch gar nicht funktionieren kann. Denn leider werden in der Diskussion schon grundlegende Begrifflichkeiten durcheinandergebracht. Wenn in diesem Kontext umgangssprachlich von „Wachstum“ die Rede ist, wird eigentlich etwas anderes gemeint: Es geht hier um konjunkturelle Effekte und damit um den Auslastungsgrad einer Volkswirtschaft. Und natürlich steigt tendenziell der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials, wenn temporär die Schulden steigen. Das führt dann auch tatsächlich für einige Quartale zu einer wirtschaftlich besseren Situation, die unter Umständen auch geeignet wäre, um über erhöhte Steuereinnahmen langfristig Schulden zu senken.
Dafür müsste der Auslastungsgrad aber kontinuierlich steigen – und genau das ist schon theoretisch ausgeschlossen. Realistischer und viel besser wäre es, wenn nicht der Auslastungsgrad stiege, sondern das Produktionspotenzial. Erst wenn dies gelänge, könnte man im akademisch korrekten Sinn von nachhaltigem Wachstum sprechen. Und hier liegt nun das Haar in der Suppe: Diese Form von Wachstum im Sinne eines stetig steigenden Produktionspotenzials lässt sich kaum mit mehr Schulden initiieren.
Um es nochmal ganz klar zu sagen: Mit Schulden kann der Auslastungsgrad einer Volkswirtschaft gesteuert werden, aber nicht der Wachstumspfad des Produktionspotenzials. Das Produktionspotenzial wächst immer dann nachhaltig, wenn eine Volkswirtschaft über eine gute Infrastruktur, ein gutes Bildungssystem, ein effizientes Rechtssystem, einen funktionierenden Kapitalmarkt, eine gute Demografie mit hoher Erwerbsbeteiligung und über stabile politische Rahmenbedingungen verfügt. Die Verschuldung kommt hier als Kriterium nicht vor, und damit ist die Mär von mehr Schulden für weniger Schulden eigentlich schon an dieser Stelle erledigt.
Die Mär vom ewigen Schlaraffenland
Wer aber immer noch nicht restlos von dieser Argumentation überzeugt ist, findet zumindest in der Multiplikatortheorie einen Strohhalm, an dem man sich festhalten könnte. Bei dem Multiplikator geht es um die Frage, um wieviel Einheiten die Wertschöpfung einer Volkswirtschaft steigt, wenn die Staatsausgaben zum Beispiel um eine Einheit wachsen.
Läge dieser Multiplikator beispielsweise bei zwei, und würden die zusätzlichen Ausgaben über Schulden finanziert, dann könnten diese Schulden zumindest langfristig über höhere Steuereinnahmen – wir unterstellen hier einen Steuersatz von 50 Prozent – wieder zurückgeführt werden. Da der volkswirtschaftlich relevante Steuersatz aber unter 50 Prozent liegt, müsste der Multiplikator eher über zwei liegen, damit sich der Staat a la Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen könnte.
Und hier kommt – Sie ahnen es schon – der Haken. Denn es gibt im echten Leben keinen derart hohen Multiplikator. Das wäre auch zu schön, denn so ließe sich ja durch zusätzliche Schulden ein ewiges Schlaraffenland schaffen. Bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende empirische Untersuchungen belegen, dass derartige Multiplikatoren vergleichsweise konstant zwischen 0,6 und 1,0 liegen. Selbst im besten Fall liegt der Multiplikator unter zwei, auch wenn ausschließlich ausgesucht „hochwertige“ Investitionen getätigt werden. Damit ist schon aus mathematischer Sicht ausgeschlossen, dass mit kurzfristig mehr Schulden langfristig weniger Schulden einhergehen.
Wenn man etwas gehässig ist, könnte man unterstellen, dass dieser Sachverhalt den Befürwortern dieser Idee tief im Herzen ohnehin klar ist. Denn eines fällt auf: Die Protagonisten einer Anti-Austeritätspolitik unterstützten in vielen Fällen auch die Idee der Vergemeinschaftung von Schulden – frei nach dem Motto: Wenn die Sache mit den Schulden doch nicht klappt, sollen bitte die anderen die Scherben aufräumen.
Prominentester Befürworter der Kombination einer Antisparpolitik in Verbindung mit der Vergemeinschaftung von Schulden ist besagter italienischer Ministerpräsident. Guiseppe Conte hat erst jüngst im italienischen Parlament eine Vergemeinschaftung von Risiken in der EU eingefordert. Und zwar ohne Bedingungen, die an Reformprozesse oder Fortschritte geknüpft sind.
Politökonomisch sind solche Forderungen im Übrigen mehr als logisch, denn sie führen kurzfristig mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Maximierung von Stimmen, auch weil die langfristigen Effekte aus Sicht des Wählers schwer bestimmbar sind und man als Wähler mit der Vergemeinschaftung von Schulden seine Haftung für eine schlussendlich „falsche“ Wahlentscheidung zum Teil auch noch abgeben kann. Kein Wunder, dass vor allem (aber nicht nur) populistische Parteien mit derartigen Rezepten so erfolgreich auf Stimmenfang gehen können.
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