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Autonomes Fahren „Das gesamte ÖPNV-Konzept muss wahrscheinlich neu überdacht werden“

Beim Überholen kurz mal eben die Mails checken
Beim Überholen kurz mal eben die Mails checken: Autonomes Fahren könnte in einigen Jahren in den entwickelten Ländern die Norm sein. | Foto: Imago Images / Westend61

Herr Clarke, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hinter dem Steuer Ihres Wagens sitzen?

Allan Clarke: Als leidenschaftlicher Autofahrer liegt mir die Zukunft des Automobils sehr am Herzen. Es gibt nichts Schöneres, als viele Kilometer einer kurvenreichen Landstraße vor sich zu haben. Als Analyst mit dem Schwerpunkt Automobilsektor tue ich mich schwer damit, dass die Tage des selbstbestimmten Fahrens gezählt sein könnten.

Bis dahin ist es aber doch noch ein weiter Weg, oder?

Clarke: Die Debatten über die Zukunft des Automobils drehen sich neben E-Autos um das autonome Fahren: Es wird massive Auswirkungen auf die Branche, die Verbraucher, die Infrastruktur und die Funktionsweise ganzer Wirtschaftszweige haben. Viel weniger junge Menschen als in den vergangenen Jahrzehnten machen ihren Führerschein. Das weist auf eine veränderte Haltung zum Auto hin. Selbstfahrende Autos werden, salopp gesprochen, dazu führen, dass Führerscheine in einer Reihe von Jahren wohl nur noch auf Oldtimer-Rallys für großes Hallo sorgen.

Warum sind Sie sich so sicher, dass das autonome Fahren kommen wird und dass es einen globalen Wendepunkt bedeutet? 

Clarke: Eine meiner Aufgaben bei Aegon Asset Management ist es, die neuesten News aus dem Technologiebereich zu recherchieren und zu interpretieren. Wenn ich mir die Fortschritte in den Bereichen Datenverarbeitung, Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit der drahtlosen Kommunikation, Kosten pro Einheit und Zugänglichkeit der Technologie ansehe, bin ich überzeugt, dass die technologischen Hürden für autonomes Fahren schon bald überwunden sein werden. Ja, es wird regulatorische Probleme geben. Und nein, es ist nicht hilfreich, wenn Tesla sein System „Autopilot“ nennt, obwohl es in parkende Polizeiautos kracht. Aber ich bin davon überzeugt: Die Welt wird sich mit der Zeit in die Richtung des autonomen Fahrens entwickeln. Noch dazu ist es unterm Strich in unserem Interesse – ein robustes autonomes System wird weitaus sicherer sein als ein schnell abgelenkter, müder und manchmal überreizter menschlicher Fahrer. Der Nutzen für die Gesellschaft in Form von weniger Unfällen wird daher erheblich sein.

Könnten Sie die Auswirkungen des autonomen Fahrens konkreter umreißen?

Clarke: Es gibt mit Sicherheit sehr viele und weitreichende Folgen, die sich jetzt noch nicht in Gänze erfassen lassen. Aber die Neuerungen fangen schon beim Fahrzeugdesign an.

Es wird kein Lenkrad mehr geben. Die derzeitige Standardanordnung von zwei Sitzen vorn und drei Sitzen hinten wird überflüssig. Stattdessen wird es mehr Raum für wohnzimmerähnliche Sitzordnungen geben. Bildschirme sorgen für Konnektivität. Es ist kein Zufall, dass eines der fortschrittlichsten Unternehmen im Bereich des autonomen Fahrens Waymo ist, die Schwesterfirma von Google. Die Macher am Werbemarkt reiben sich schon jetzt die Hände: Die Daten, die sie sammeln können, wenn sie wissen, wohin Sie fahren, wie Sie dorthin kommen, wo Sie vorbeikommen, mit wem Sie fahren und wie lange Sie sich im Auto befinden, sind Manna vom Himmel für Unternehmen, die sich mit Targeted Advertising, sprich gezielter Werbung beschäftigen.

Auch beim Autobesitz dürfte sich einiges ändern, oder?

Clarke: Traditionelle Autokauf- und Leasing-Modelle werden auf den Kopf gestellt. Dem Wirtschaftsmagazin Forbes zufolge stehen Autos 96 Prozent ihrer Zeit in Einfahrten und Parkbuchten herum – was mit zum ineffizientesten Kapitaleinsatz gehört, den ich mir vorstellen kann. Ein Auto, das mit einem Klick auf das Telefon losfährt, um einen abzuholen, die beste Route kennt und anschließend zu einer lokalen Park-, Reinigungs-, Service- oder Ladestation fährt, klingt weitaus effizienter, was die Gesamtnutzung des Fahrzeugs, aber auch den finanziellen Aufwand für jeden einzelnen Verbraucher angeht.

Was könnte sich in den Städten verändern?

Clarke: Denken Sie an den Platz, der derzeit zum Parken genutzt wird, sei es im dafür betonversiegelten Vorgarten, am Straßenrand oder auf Parkflächen. Dieser Platz kann freigemacht werden, so dass mehr Freiraum für Fußgänger und Radfahrer auf den Straßen entsteht und andere Flächen umgenutzt werden können.

Ändert sich auch das Verkehrsaufkommen insgesamt?

Clarke: Straßen und Routen ändern sich. Autonome Autos werden zu jeder Zeit die beste Route kennen und Staus so weit wie möglich vermeiden. Sie wissen, wo eine holprige, mit Schlaglöchern übersäte Straße umfahren werden kann, um eine angenehmere Alternative zu finden. Sie sind in der Lage, die Fahrtzeiten so zu wählen, dass die Straßen am ruhigsten sind – man denke an die Möglichkeit, bei einer langen Nachtfahrt in einem Schlafwagen zu schlafen. Ob das insgesamt zu weniger Verkehr führt, ist schwer zu sagen – vielleicht trägt es dazu bei, dass sich das Verkehrsaufkommen auf eine größere Bandbreite von Stunden verteilt. Das gesamte ÖPNV-Konzept der öffentlichen Verkehrsmittel muss wahrscheinlich auch neu überdacht werden – es ist natürlich immer noch ein großer Vorteil, wenn man die Anzahl der Fahrzeuge auf der Straße reduziert, aber vielleicht gibt es bessere Optionen in Bezug auf Fahrpreise, Komfort und Kosten für die öffentliche Hand als die großen, schweren und für die Fahrgäste nicht immer konfliktfreien Busse, wie wir sie heute haben.

Was könnte sich in Hinblick auf die Markenbildung ändern?

Clarke: Das gesamte Konzept der Markenbildung in der Autoindustrie wird auf den Kopf gestellt. Welches sind die angesagtesten Marken der Welt? Ich bin mir nicht sicher, ob viele der Autohersteller auf dieser Liste ganz oben stehen würden. Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie würden zum Abschlussball, zum Date oder zur Preisverleihung nicht nur in einem schönen Mercedes erscheinen, sondern er steht auch noch auf breiten Schlappen im neuesten Louis-Vuitton-Style. Warum eigentlich nicht?

Aber was ist mit den Schattenseiten? Taxifahrer können einpacken, oder?

Clarke: Ganz klar, Arbeitsplätze am Steuer sind in Gefahr. Chauffeure, Lkw-Fahrer, Busfahrer, Taxifahrer und Lagerarbeiter sind alle potenziell vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht. Die Technologie hat bereits viele Arbeitsmärkte umgestaltet, und es ist wahrscheinlich, dass diese Berufe vor erheblichen Umwälzungen stehen. Das Gleiche gilt für eine meiner Lieblingssportarten: Wie kann ein Rennfahrer wie Lewis Hamilton in einer Welt, in der das eigentliche Autofahren keine Rolle mehr spielt, überhaupt noch antreten? Vielleicht wird sein Rekord von bislang sieben Weltmeistertiteln nie mehr gebrochen werden – vielleicht aber wird er ganz einfach von Waymos schnellstem selbstfahrenden Auto abgekocht.

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