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Der Shein-Effekt: Anpassen oder verblassen

Es gibt zahlreiche spektakuläre Beispiele dafür, dass der technologische Wandel die Marktführerschaft von Unternehmen binnen kurzer Zeit zerstören kann: So wurden die Mobiltelefone von Nokia mit Aufkommen der Touchscreen-Smartphones vom Must-have zum alten Knochen degradiert. Ähnlich bei den CD-Walkmans von Sony, die in den 2000er-Jahren abrupt von MP3-Playern abgelöst wurden, welche in den 2010ern wiederum durch die Masseneinführung von Smartphones obsolet wurden.
Die zunehmende Digitalisierung des Alltags hat die Geschwindigkeit, mit der disruptive Innovationen aufkommen, noch einmal signifikant beschleunigt. Das betrifft auch andere Branchen; besonders ein Blick auf den Bekleidungshandel verdeutlicht aktuell diesen Wandel: Dort setzen asiatische E-Commerce-Giganten etablierte Geschäftsmodelle aus Europa unter Druck.
Fast Fashion auf dem Vormarsch
Das Zeitalter der sogenannten Fast Fashion hat bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren begonnen, als große stationäre Händler wie H&M und Zara die Kunden mit attraktiven Preisen und einem vielseitigen und rasant wechselnden Sortiment überzeugten. Damit zwangen sie die traditionellen und alteingesessenen Warenhäuser in die Knie und konnten ihnen erhebliche Marktanteile abnehmen.
Den nächsten transformativen Schritt im Bekleidungshandel haben E-Commerce-Riesen wie Amazon und Zalando eingeläutet. Sie revolutionierten die Branche, indem sie vollständig auf physische Geschäfte verzichteten und dadurch massive Kostenvorteile erzielten. Die Fast-Fashion-Giganten mussten reagieren und stärkten ihre Position durch ein hybrides Handelsmodell aus Online- und Offline-Präsenz. Ein bekanntes Opfer des Wandels: Die Neckermann GmbH musste 2012 Insolvenz anmelden.
Überflieger Shein greift Zara an
Wer glaubt, dass die Wettbewerbssituation damit geklärt sei, wird von den Wettbewerbern aus dem Bereich „Ultra Fast Fashion” eines Besseren belehrt: Disruptive Händler wie Shein und Temu greifen mit beispielloser Geschwindigkeit und datenbasierten Produktionsmodellen die etablierten Bekleidungshändler an. Besonders das chinesische Unternehmen Shein sorgt derzeit für Wirbel und verändert die Branche nachhaltig: Statt auf umfangreiche und kostspielige Lagerhaltung zu setzen, produziert Shein nur auf Bestellung.
In der Regel stellen externe Hersteller zunächst wenige Musterartikel her, die online intensiv beworben werden. Ist die Nachfrage groß, greift das datenbasierte Geschäftsmodell auf flexible, nachfragegesteuerte Produktionswerke zurück. Die Ware verschickt Shein anschließend teilweise per Luftfracht auf direktem Weg an die Verbraucher in aller Welt. Die Schattenseite: die katastrophale ökologische Bilanz der günstigen Textilien.
Der Erfolg des Geschäftsmodells in Geschwindigkeit und Höhe ist dennoch atemberaubend, und noch in diesem Jahr will Shein in London an die Börse gehen: Shein erreichte in nur vier Jahren einen Umsatz von heute über 30 Milliarden US-Dollar – ein Kunststück, für das Zara über 20 Jahre benötigte. Shein bringt heute jeden Tag rund 10.000 neue Produkte heraus – so viele wie Zara in einem ganzen Jahr.
Der Shein-Effekt macht auch vor anderen Sektoren keinen Halt
Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen Sektoren beobachten: So sieht sich der etablierte Schweizer Gesundheitsdienstleister Galenica mit dem aufstrebenden E-Commerce-Versand von Medikamenten konfrontiert. Das Unternehmen hat daraufhin sein Angebot auf ein hybrides Geschäftsmodell umgestellt. Zur weiteren Stärkung der Wettbewerbsposition ist Galenica eine strategische Partnerschaft mit einer führenden europäischen Versandapotheke eingegangen. Das zeigt: Kooperationen könnten eine Alternative zur Konfrontation darstellen. In jedem Fall müssen Geschäftsmodelle agil in ihrer Anpassungsfähigkeit sein.
Ein weiterer aktueller Fall technologiegetriebenen Wandels ist im Automobilsektor zu finden: Während Mercedes-Benz früher lange an einem Modell festhalten konnte, sieht sich der Konzern inzwischen unter starkem Innovationsdruck. Beispielsweise konnte Mercedes das Sportwagenerfolgsmodell SL mit Produktanpassungen von 1971 bis 1989 produzieren, bevor ein komplett neues Modell auf den Markt kam. Heute zwingen die neuen Wettbewerber aus China und den USA die deutschen Autobauer zum Wandel: Durch die technologieinduzierte Veränderung des Antriebsstrangs werden die Karten völlig neu gemischt.
Selbst Staaten sind unter Druck
Die Beispiele zeigen, wie schnell sich externe Rahmenbedingungen ändern können und wie wichtig es ist, dass Unternehmen sich entsprechend anpassen. Fakt ist: Traditionelle Geschäftsmodelle stehen unter Druck und müssen sich agil und flexibel zeigen, um nicht vom Markt verdrängt zu werden. Die Produkt- und Innovationszyklen werden immer kürzer und Anpassungsfähigkeit und Geschwindigkeit sind unabdingbare Bestandteile einer langfristig erfolgreichen Unternehmensstrategie.
Mehr noch: Die Bundesrepublik feiert in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen und sieht sich neben einer Vielzahl von Krisen mit erheblichem Reformbedarf konfrontiert. Bildung, Verteidigung, Infrastruktur, Bürokratie und Digitalisierung sind nur ein Teil der Liste. Die Quittung der verschleppten Reformen des exportorientierten Geschäftsmodells ist bereits spürbar, sowohl in den miserablen Ergebnissen der Pisa-Studie als auch allgemein in der abnehmenden Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Wird der Wandel weiter hinausgezögert oder halbherzig angegangen, dürften die Deutschen das bald immer schmerzlicher spüren: in Form von Wohlstandsverlust.
Daher gilt die Devise sowohl für Unternehmen als auch für Staaten: Anpassen oder verblassen.
Über den Autor:
Thomas Meier ist seit Januar 2015 bei Mainfirst Asset Management und leitet als Portfoliomanager den Mainfirst Global Dividend Stars.