Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeichnen ein düsteres Bild der deutschen Wirtschaft. Im zweiten Quartal 2024 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Seit 2022 wechseln sich Quartale mit leichtem Wachstum und Schrumpfung ab – ein klares Zeichen für eine anhaltende Stagnation.
Wirtschaftsminister Robert Habeck selbst prognostizierte bereits in seinem Jahreswirtschaftsbericht aus dem Februar für 2024 nur noch ein minimales Wachstum von 0,2 Prozent. Das ist eine deutliche Abwärtskorrektur gegenüber der Prognose von 1,3 Prozent in der Herbstprognose. Die deutsche Wirtschaft scheint also auch in diesem Jahr weiterhin zu stagnieren und den großen Wirtschaftsnationen hinterherzulaufen.
Um die Hintergründe dieser negativen Entwicklung besser zu verstehen, haben wir mit Ulrich Kater gesprochen. Er ist Chefvolkswirt der Dekabank und gilt als ausgewiesener Experte für die deutsche Wirtschaft. Im Interview gab er uns aufschlussreiche Einblicke in die strukturellen Herausforderungen, mit denen das Land konfrontiert ist.
DAS INVESTMENT: Herr Kater, was sind die Hauptfaktoren, die zum Rückgang der deutschen Wirtschaft um 0,1 Prozent im zweiten Quartal beitragen, obwohl die Löhne schneller als die Inflation gestiegen sind? Warum schlägt sich die gestiegene Kaufkraft der Verbraucher nicht in Wirtschaftswachstum nieder?
Ulrich Kater: In Deutschland überlappen sich derzeit eine schwache konjunkturelle Entwicklung und strukturelle Probleme. Vor dem Hintergrund langsam, aber stetig steigender Einkommen besteht zwar durchaus Hoffnung, dass die Konjunktur zum Jahresende hin anziehen wird. Währenddessen werden die strukturellen Probleme aber weiter bestehen bleiben und das langfristig mögliche Wachstum auf rund 0,5 Prozent jährlich begrenzen. Das ist mittlerweile keine Durststrecke mehr, sondern wir befinden uns in der Wachstumswüste. Bis zum Horizont ist nur Stagnation zu erblicken. Zur Begründung dieser Wüste bedarf es keiner neuen Analysen und Gutachten, sondern eines umfassenden und in sich geschlossenen Reformpaketes. Jährliche, kleinere Reförmchen lösen nicht die Probleme und brechen auch nicht den Standortpessimismus der Unternehmen.
Deutschlands wichtiger Industriesektor sieht sich mit Problemen wie rückläufigen Aufträgen, einer schwachen globalen Nachfrage und hohen Energiepreisen im internationalen Wettbewerb konfrontiert. Wie kann sich die deutsche Industrie auf diese Herausforderungen einstellen und welche politischen Maßnahmen könnten helfen, die Branche zu unterstützen?
Kater: Die bisherigen Bemühungen um eine Verbesserung von Standort und Wachstumspotenzial durch Maßnahmen wie das Wachstumschancengesetz oder eine gesteigerte Forschungsförderung, durch Deregulierungsinitiativen, von Bürokratieentlastungs- bis hin zu Planungsbeschleunigungsgesetzen sowie durch verbesserte Einwanderungsregelungen für Fachkräfte sind da nur zu begrüßen. Angesichts der dicken Rostschicht am Standort Deutschland sollte allerdings klar sein, dass einfaches Überpinseln der Bordwand dem deutschen Wirtschaftstanker keinen neuen Glanz verleihen wird.
Für die energieintensiven Produktionen in Deutschland helfen nur Maßnahmen zur Senkung der Energiepreise, insbesondere beim Strom. Aber auch die anderen Industrieunternehmen in Deutschland brauchen wieder mehr Orientierung der Politik auf die Standortbedingungen. Es könnte damit beginnen, dass die Politik Leistungsverbesserungen am Standort Deutschland wieder expliziter und höher priorisiert und in ihre Handlungsprogramme aufnimmt. Dazu gehört auch wieder ein expliziteres Bekenntnis zum Wachstumsziel, ohne dass deswegen die zusätzliche Bedingung der Nachhaltigkeit aufgegeben werden muss.
Wie sehen Sie angesichts des deutlichen Rückgangs von Im- und Exporten im Mai den deutschen Außenhandel in den kommenden Quartalen? Wie abhängig ist eine Erholung der deutschen Wirtschaft von einer Erholung des Handels mit wichtigen Partnern wie China?
Kater: Die deutsche Industrie als Hauptnutznießer der Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten steckt in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Seit einigen Jahren fährt weltweit der Handelszug rückwärts, der Welthandel als Teil der Weltwirtschaft stagniert. Das hat sicherlich mehrere Gründe. Am meisten wird der Handel durch immer neue politische Beschränkungen verlangsamt: Zölle, Technologieverbote, Einfuhrbeschränkungen. Der Grund: Neues Konkurrenzdenken zwischen den Staaten. Viele Länder sind ökonomisch stark geworden, allen voran China. Das verursacht politische Konflikte – und die schwappen auf die Wirtschaft über. Dazu kommen die immensen Anforderungen an neue Produkte aus den technologischen Revolutionen, die sich in fast jedem Wirtschaftssektor abspielen. Gerade in einer Zeit, in der sich viele Geschäftsmodelle neu erfinden müssen, sind Investitionen unerlässlich. Die derzeitige Investitionslähmung am Standort erhöht die Gefahr, dass deutsche Unternehmen den Anschluss verlieren.
Erwarten Sie mit Blick auf die Zukunft eine Rückkehr der deutschen Wirtschaft auf den Wachstumspfad in der zweiten Jahreshälfte 2024 oder droht dem Land eine länger anhaltende Stagnation oder Rezession? Was sind die wichtigsten Abwärtsrisiken, die es zu beachten gilt, und welche Faktoren könnten zu einer Erholung beitragen?
Kater: Die Ergebnisse des zweiten Quartals verlangen eine Abwärtsrevision der Wachstumserwartung für das gesamte Jahr. Selbst wenn eine gewisse Belebung in der zweiten Jahreshälfte stattfinden wird, kommt am Ende nicht viel mehr heraus als eine schwarze Null. Das Jahr 2024 ist ein weiteres verlorenes Wirtschaftsjahr für Deutschland.
Über den Interviewten:
Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der Dekabank, sieht in der aktuellen wirtschaftlichen Stagnation Deutschlands eine Kombination aus konjunkturellen und strukturellen Problemen. Er spricht von einer Wachstumswüste und betont, dass kleinere, jährliche Reformen nicht ausreichen werden, um die Herausforderungen zu meistern. Stattdessen plädiert er für ein umfassendes Reformpaket.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu stärken, fordert Kater Maßnahmen zur Senkung der Energiepreise, eine stärkere Fokussierung auf die Standortbedingungen seitens der Politik sowie ein klares Bekenntnis zum Wachstumsziel. Angesichts des rückläufigen Welthandels und des zunehmenden internationalen Konkurrenzdrucks betont er die Bedeutung von Investitionen für die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen.
Insgesamt erwartet Kater für 2024 bestenfalls eine „schwarze Null“ beim Wirtschaftswachstum und sieht die Notwendigkeit eines entschlossenen Handelns sowie einer engen Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, um die Weichen für eine positive Entwicklung zu stellen.

