Deutschland ist für die wirtschaftliche Stabilität der Eurozone von großer Bedeutung. Eine schwache Konjunktur in Deutschland belastet somit die Wirtschaftsleistung der EU deutlich – selbst wenn andere europäische Volkswirtschaften wachsen. Ein mageres Wirtschaftswachstum könnte über Jahre hinweg zum Markenzeichen der deutschen Wirtschaft werden. Denn das Land steht vor drei strukturellen Problemen: eine hohe Exportabhängigkeit, eine alternde Bevölkerung und stagnierende Produktivität.
Die Energiekrise ist nur ein Teil des Problems
Viele halten die Energiekrise, welche durch den Ukraine-Krieg ausgelöst wurde, für die Ursache der deutschen Malaise. Dies trifft auch größtenteils zu – zumindest für die Jahre 2022 und 2023. Für das abgelaufene Jahr zeichnen die Daten jedoch ein anderes Bild:
Die deutsche Wirtschaft ist in hohem Maße vom Export abhängig. Zwar sind die Energiepreise im Vergleich zu dem Niveau vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs nach wie vor hoch, die deutsche Handelsbilanz und Kennzahlen für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft haben jedoch inzwischen wieder annähernd ihr Vor-Krisen-Niveau erreicht. Deutschland hat sich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit angepasst und Alternativen zu russischem Öl und Gas gefunden. Das Ergebnis: Deutsche Unternehmen produzieren heute mehr mit weniger.
Die Energiekrise ist also nicht mehr hauptverantwortlich für die deutsche Wachstumsschwäche. Die Ursache für die schlechte Konjunktur in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres war vor allem ein deutlicher Rückgang der Auslandsnachfrage – insbesondere aus China.
Drei Herausforderungen bremsen die Wirtschaft
Für sein Wachstum vertraut Deutschland zu sehr auf Exporte nach China. Zudem erstreckt sich die Abhängigkeit nicht nur auf Exporte, sondern auch auf Importe, die zur Herstellung deutscher Waren notwendig sind: Rund 43 Prozent der deutschen Industriezweige sind auf chinesische Einfuhren angewiesen. Zwar räumen 81 Prozent der deutschen Hersteller ein, dass es „schwierig“ oder sogar „sehr schwierig“ wäre, kritische Vorprodukte aus China zu ersetzen; die Mehrheit (60 Prozent) hat jedoch nach eigenen Angaben bisher nichts unternommen, um diese Abhängigkeit zu reduzieren. Das macht Deutschland anfällig für zunehmende Restriktionen im Welthandel, sowohl auf der Import- als auch auf der Exportseite.
Dazu kommt: Genau wie in anderen Industrieländern ist die demografische Entwicklung auch in Deutschland negativ. In den letzten zehn Jahren hat die Zuwanderung die schrumpfende einheimische Erwerbsbevölkerung ausgeglichen. Ob dies auch in Zukunft gelingen kann, ist in Anbetracht möglicher politischer Veränderungen ungewiss.
Auch das schwache Produktivitätswachstum bremst die Wirtschaft. Fehlende Investitionen in Technologien wie künstliche Intelligenz, ein unflexibler Arbeitsmarkt und bürokratische Hürden hemmen Innovationen und eine effiziente Ressourcenallokation.
Kein Grund für Schwarzmalerei
An dieser Stelle drängt sich fast ein Vergleich mit Japan zu Beginn der Neunzigerjahre auf – und könnte zu dem Schluss verleiten, Deutschland stünde womöglich an der Schwelle zu seinem eigenen verlorenen Jahrzehnt. Doch ganz so düster sieht es nicht aus.
Zum einen hat die Regierung zuletzt eine Reform der sogenannten Schuldenbremse ins Spiel gebracht, die einen ausgeglichenen Haushalt vorschreibt. Ein solcher Schritt wäre zu begrüßen, insbesondere wenn dadurch größere Investitionen in neue Technologien wie künstliche Intelligenz zur Förderung des Produktivitätswachstums möglich würden. Zum anderen könnten Strukturreformen, speziell solche, die die Rahmenbedingungen für Unternehmen am Arbeitsmarkt verbessern, maßgeblich zu einer wirtschaftlichen Erholung beitragen.
Deutschland hat sich während der Energiekrise als äußerst resilient erwiesen, man sollte das Land daher nicht zu schnell abschreiben. Die Probleme des Landes bleiben jedoch – unabhängig vom Ausgang der anstehenden Bundestagswahlen – gewaltig und lassen sich nur in Zusammenarbeit mit dem gesamten Euroraum lösen.
Jumana Saleheen ist Head of Investment Strategy Group, Vanguard Europe, und Chief European Economist
