Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Chefvolkswirt Jörn Quitzau
Weshalb es einen Neustart in der Wirtschaftspolitik braucht
Jörn Quitzau arbeitet als Chefvolkswirt bei der Schweizer Privatbank Bergos. Bildquelle: Bergos / Canva
Die vergangenen Jahre haben die scheinbaren Gewissheiten vieler Bürger und Unternehmen durcheinandergerüttelt. Jörn Quitzau analysiert in seinem Beitrag, warum Erwartungen und Realität in immer mehr Bereichen auseinandergehen, was zu tun wäre, um zurück zu einem Gleichgewicht zu finden – und warum die Wirtschaftspolitik aus seiner Sicht wieder mehr Bodenhaftung benötigt.
Wenn Ökonomen über Gleichgewicht sprechen, dann geht es meist um Angebot und Nachfrage. Ob Zinsen, Wechselkurse oder Güterpreise – der Preismechanismus bringt Angebot und Nachfrage zusammen und die Märkte ins Gleichgewicht. Die Ökonomen sind dann meist zufrieden.
Die Normalbürger hingegen sind dann zufrieden, wenn sich ihre Alltagserwartungen und Lebenspläne einigermaßen erfüllen. Stimmt die Realität mit den eigenen Erwartungen überein, sind die Menschen im Gleichgewicht.
Keil zwischen Erwartungen und Realität
Die Krisen der vergangenen Jahre haben aber einen mächtigen Keil getrieben zwischen die Erwartungen und die Realität. Die Umbrüche (Finanz- und Eurokrise, Migrationskrise, Corona-Pandemie, Russland-Ukraine-Krieg, Energiekrise) haben die Alltags- und Lebenspläne sowie die (scheinbaren) Gewissheiten vieler Bürger und Unternehmen kräftig durchgerüttelt. Viele Menschen sind dadurch aus dem Gleichgewicht geraten. Die gesellschaftlichen Spannungen zeigen, dass es sich dabei keineswegs um Einzelfälle handelt.
Dass es bisher gelungen ist, wirtschaftlich immer wieder mit einem blauen Auge durch die Krisen zu kommen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die reinen makroökonomischen Zahlen das Ausmaß der gesellschaftlichen Kosten nicht abbilden. Die außerordentlich hohe Ungewissheit und Verunsicherung – manches davon wäre durch eine andere Politik übrigens vermeidbar gewesen – werden nicht erfasst, allenfalls kommt die Verunsicherung der Unternehmen in einigen Vertrauensindikatoren zum Ausdruck.
Zudem: Zur Bewältigung der Krisen wurden nicht selten (wirtschafts)politische Tabus gebrochen. Infolgedessen haben nicht nur viele Wirtschaftspolitiker nach und nach ihre Orientierung verloren, auch die Bürger wissen nicht mehr, worauf überhaupt noch Verlass ist.
Finanzpolitische Regelbrüche in der Europäischen Währungsunion
Ein Beispiel aus dem Finanzsektor sind die finanzpolitischen Regelbrüche in der Europäischen Währungsunion. Die laxe Haushaltspolitik in einigen Ländern führte zunächst zur Eurokrise, die mit der Griechenlandhilfe den Bruch des Bailout-Verbotes zu Folge hatte. Die Europäische Zentralbank (EZB) sah sich später veranlasst, den Krisendruck mit einer unorthodoxen, ultra-expansiven Geldpolitik zu lindern.
Die Folgen sind bekannt: Jahrelang stand die Welt mit Null- und Negativzinsen Kopf. Schuldenmachen wurde zur Tugend, Sparsamkeit zur Untugend. Den Sparern wurde zunächst der Zinseszins genommen und anschließend wurde das Ersparte durch die große Inflation entwertet. Und das in einer Zeit, in der der individuelle Vermögensaufbau angesichts der alternden Gesellschaft und der nicht nachhaltig finanzierten Rente allerhöchste Priorität hätte haben sollen.
Ein Beispiel aus der Energie- und Klimapolitik ist das deutsche Heizungsgesetz. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte für größtmögliche Verunsicherung in der Gesellschaft gesorgt. Statt auf das kosteneffiziente und vergleichsweise harmlose Instrument der CO2-Bepreisung zu setzen, versuchte es der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister mit der Brechstange.
Das faktische Einbauverbot von Öl- und Gasheizungen hätte manche Immobilienbesitzer an den Rand der finanziellen Möglichkeiten gedrängt – oder sogar darüber hinaus. Wenn der Staat bereit ist, bei Alltagsentscheidungen im Zweifel sogar bis in das Zuhause der Bürger hineinzuregieren, ist eine tief verunsicherte Bevölkerung vorprogrammiert.
Auch Unternehmen sehen in Deutschland einer ungewissen Zukunft entgegen. Ein Industrieland mit der Aussicht auf mögliche Stromrationierungen wirkt nicht sonderlich attraktiv. Die Furcht vor einer bevorstehenden Deindustrialisierung Deutschlands mag überzogen sein, aber der Gedanke, Deutschland als Produktionsstandort künftig zu meiden, ist bei Unternehmen weit verbreitet.
Doch es geht nicht nur um energieintensive Unternehmen. Die Liste der Unwägbarkeiten, denen sich die deutschen Unternehmen gegenübersehen, ist lang. Sie reicht von übergroßen bürokratischen Hemmnissen, über den allgegenwärtigen Mangel an qualifiziertem Personal bis hin zur Sprunghaftigkeit der Wirtschaftspolitik.
Veränderungsbereitschaft der meisten Menschen nicht unerschöpflich
Erwartungen und Realität gehen in immer mehr Bereichen auseinander. Was wäre also zu tun, um zurück zu einem Gleichgewicht zu finden? Am Anfang müsste die Einsicht stehen, dass die Veränderungsbereitschaft der meisten Menschen nicht unerschöpflich, sondern begrenzt ist.
Die wirtschaftspolitischen Akteure, aber auch die Vordenker in den Denkfabriken müssten dies verinnerlichen. Konzepte, die auf einem idealisierten, aber letztlich falschen Menschenbild aufbauen, sind zum Scheitern verurteilt. Die Bundesregierung versucht immer öfter, Fehlentwicklungen ihrer Politik mit Appellen zu heilen. Doch wirtschaftliche Akteure reagieren nicht auf Appelle, sondern auf Anreize.
Ein kompletter Neustart in der Wirtschaftspolitik ist deshalb nötig. Unternehmen und Bürger brauchen eine verlässliche und vertrauenswürdige Politik. Eine funktionierende Gesellschaft braucht Leitplanken. Es war unklug, die bestehenden Leitplanken – bewusst oder unbewusst – abzureißen, ohne adäquaten Ersatz anbieten zu können.
Dies zu korrigieren und in der (Wirtschafts-) Politik wieder zu mehr Bodenhaftung zurückzufinden, ist das Gebot der Stunde. Solange hier keine echte Trendwende geschieht, werden Wirtschaft und Gesellschaft nicht ins Gleichgewicht zurückfinden.
