Chefvolkswirt Jörg Zeuner
Die Angst vor Inflation ist übertrieben
Jörg Zeuner ist Chefvolkswirt von Union Investment. Foto: Union Investment
Die Inflation steigt wie seit vielen Jahren nicht. Trotzdem sind die Ängste, die derzeit geschürt werden, überzogen. Ein Gastbeitrag von Jörg Zeuner, Chefvolkswirt von Union Investment.
Die aktuelle Inflation überzeichnet den unterliegenden Preisdruck daher massiv. Insofern rechnen wir im Laufe des Jahres 2022 mit einem Rückgang der Inflationsraten. Darüber besteht weitgehende Einigkeit. Die strittigere Frage ist, wie stark der Rückgang ausfällt und auf welches Niveau die Inflationsraten nächstes Jahr sinken. Wir gehen im Euroraum von einem Niveau knapp unterhalb des Zwei-Prozent-Zielwerts der EZB für Ende 2022 aus. Hierfür spricht neben dem moderaten Maß des unterliegenden Preisdrucks auch, dass der Anstieg der Inflationserwartungen in der Nähe des Zielwertes von 2 Prozent zum Stoppen gekommen ist.
Prognosen von Union Investment weisen auf Normalisierung hin
Zentral...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Die aktuelle Inflation überzeichnet den unterliegenden Preisdruck daher massiv. Insofern rechnen wir im Laufe des Jahres 2022 mit einem Rückgang der Inflationsraten. Darüber besteht weitgehende Einigkeit. Die strittigere Frage ist, wie stark der Rückgang ausfällt und auf welches Niveau die Inflationsraten nächstes Jahr sinken. Wir gehen im Euroraum von einem Niveau knapp unterhalb des Zwei-Prozent-Zielwerts der EZB für Ende 2022 aus. Hierfür spricht neben dem moderaten Maß des unterliegenden Preisdrucks auch, dass der Anstieg der Inflationserwartungen in der Nähe des Zielwertes von 2 Prozent zum Stoppen gekommen ist.
Prognosen von Union Investment weisen auf Normalisierung hin
Zentral für eine Normalisierung der Inflation ist, dass eine Aufwärtsspirale von Löhnen und Preisen ausbleibt. Risiken für unsere Inflationseinschätzung bestehen, falls der Preisdruck nicht auf wenige Sektoren beschränkt bliebe, sondern deutlich in die Breite ginge. Kritisch wäre zudem der Fall, dass Unternehmen und Haushalte ihre gestiegenen Barreserven deutlich schneller und stärker in den Wirtschaftskreislauf brächten. Auch könnten neue Virusvarianten die bisherigen preistreibenden Effekte verlängern. Vor allem aber dürften sich höhere Inflationserwartungen nicht voll in höheren Lohnforderungen niederschlagen. Sie würden wiederum als steigende Kosten von den Unternehmen über noch höhere Preise an die Verbraucher weitergereicht.
Die jüngsten Tarifabschlüsse in Deutschland bieten keinerlei Hinweise auf eine Lohn-Preis-Spirale. Im Gegenteil, denn so ist etwa der Abschluss der Eisenbahngewerkschaft GDL sehr moderat und unterhalb der Teuerungsrate ausgefallen. Und auch in den USA sollte der Lohndruck sich wieder etwas abflachen. Nachdem viele Arbeitskräfte nach der Krise angesichts geschlossener Schulen noch wegen der Kinderbetreuung zuhause geblieben waren und staatliche Sonderzahlungen den Anreiz zur Arbeitsaufnahme verringert hatten, dürften sich diese Arbeitskräfte nun wieder verstärkt um Jobs bemühen.
Die Voraussetzungen für höhere Inflationsraten in den kommenden zwei bis fünf Jahren sind dennoch eher gegeben als in den vergangenen Jahren. Neben den strukturellen Faktoren wie Deglobalisierung, Dekarbonisierung und Demographie tragen hierzu auch die Fiskalprogramme der Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks sowie die nach den Strategieüberprüfungen gestiegene Inflationstoleranz der Notenbanken bei. Durch das engere Mandat der EZB bleiben die Inflationserwartungen in Europa aber wohl etwas besser verankert.
Bis ein neuer Gleichgewichtszustand mit etwas höheren Inflationsraten als vor der Pandemie erreicht ist, dauert es noch etwas. Die hochvolatilen Inflationsbewegungen bleiben durch Sondereffekte in den nächsten Monaten erhalten. Vorübergehend schwankt die Inflationsrate damit wie ein Bungeespringer um den unterliegenden mittelfristigen Preisdruck. Wie Schwerkraft und Federkraft wirken Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auf das elastische Seil und lenken es derzeit stark nach oben. Je besser gesamtwirtschaftliche Nachfrage und gesamtwirtschaftliches Angebot mit der Zeit zueinander finden, desto kleiner werden die Schwingungen.
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