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Lionel Barber zum Russland-Ukraine-Krieg Die langfristigen Folgen des Ukrainekriegs

Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking im März 2022
Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking im März 2022: Es stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen China aus der Entschlossenheit des Westens in der Ukraine-Krise ziehen wird. | Foto: Imago Images / Xinhua
Lionel Barber, 2005 bis 2020 Redakteur
bei der „Financial Times“

Diese Krise hat schon vor längerer Zeit ihren Anfang genommen. Wladimir Putin ist ein Meister der Destabilisierung. Wenn er Schwächen bei seinem Gegner spürt, legt er es darauf an, diese auszunutzen. Jetzt hat er sich verkalkuliert. Die EU, die oft als bürokratisch und schwerfällig angesehen wird, reagierte mit beispielloser Entschlossenheit und schnellen Entscheidungen, kurz nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war.

Ein entscheidender Punkt ist, dass sich Putin immer beschwert hat, dass der Westen Russland ausnutzt. Ich würde gerne auf ein Interview zurückkommen, das ich im Juni 2019 im Kreml führte – wir mussten fünf Stunden auf das Interview warten, erst kurz vor Mitternacht ging es los. Putin machte deutlich, dass er davon ausgehe, dass der Westen dem endgültigen Niedergang geweiht sei, und die liberale Idee „veraltet“. Als ich ihn fragte, ob sein Risikoappetit nach 20 Jahren an der Macht zugenommen habe, wollte er sich zunächst nicht dazu äußern, konnte dann aber doch nicht widerstehen, mich mit kühlen Augen anzuschauen und zu sagen: „Nun, wir haben in Russland ein Sprichwort: Wer nichts wagt, trinkt später keinen Sekt.“ Er hatte ganz klar den Vorsatz, das Risiko einer großangelegten Invasion in die Ukraine einzugehen.

Das russische Militär gibt in diesem Konflikt ein miserables Bild ab. Die Taktik war komplett falsch. Die Koordination zwischen Luft, Meer und Land war schlecht, ein neuer General sollte es richten. Das russische Militär wurde regelrecht vorgeführt. 

In den westlichen Medien heißt es, dass Putin intern zunehmend unter Druck gerate, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir schon so weit sind. Allerdings wird es kein Staatschef, der sich absolut sicher fühlt, für notwendig halten – wie Putin vor der Invasion –, sein nationales Sicherheitsteam einzuberufen und vor der Kamera einen Treueeid leisten zu lassen. Und es gibt den einen oder anderen Oligarchen, der sich offen geäußert hat. 

Russland ist geächtet. Es ist isoliert. Die wirtschaftlichen Sanktionen werden lange bestehen bleiben. Sollte es zu Friedensgesprächen kommen, wird die Lockerung von Sanktionen ein wichtiger Teil jedes zukünftigen Abkommens sein, und hier sitzen der Westen und die Ukraine am längeren Hebel.

Was will Putin? Was sind seine Kriegsziele? Und was wird er tun, wenn er scheitert? Wir müssen noch Antworten auf diese Fragen finden. Er könnte vielleicht die Ostprovinzen der Ukraine, einen Großteil der Südküste einnehmen und einfach besetzen und abwarten. Er würde nicht den Sieg erklären, er würde nicht sagen, dass er sich zurückzieht. Was würde die Ukraine dann tun? Ich denke, sie würde weiterkämpfen. Beide Seiten glauben, dass sie kämpfen müssen, um an Terrain zu gewinnen, sonst würden sie als Verlierer dastehen. Wenn überhaupt, besteht die Gefahr, dass die Ukrainer angesichts ihrer Erfolge im Verlauf des Kriegs zu selbstbewusst sind.

Die Finanzmärkte würden einen großen Fehler machen, wenn sie nicht erkennen, dass dieser Konflikt langsam eskaliert. Weitere Länder schalten sich ein und versorgen Kiew mit modernen Waffen. Und dann haben wir auf der anderen Seite Russland. Es hatte eine sehr schlechte Anfangsphase, hat aber noch keine seiner modernsten Waffen eingesetzt. Es besteht die Gefahr, dass der Konflikt auf andere Länder übergreift, wenn Russland versucht, die Versorgungswege zu kappen, die der Westen durch angrenzende Länder wie Polen organisiert. Ich sage nicht, dass es zu einem solchen Übergreifen kommen wird, aber dieses Risiko besteht. Ich gehe nicht davon aus, dass es zu einem Nuklearkonflikt kommen wird, aber der Einsatz chemischer Waffen ist durchaus möglich.

Wir haben einen Moment erlebt, den ich als „die Stunde Europas“ bezeichnen würde. Deutschland ist aufgewacht und es ist faszinierend zu sehen, wie sich die deutsche Meinung zur Militarisierung grundlegend verändert. Deutschland muss seine Verteidigung nun viel ernster nehmen. Das Vermächtnis der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel erscheint jetzt brüchig und fragwürdig. Ihre Politik, Russland in ein Netz wirtschaftlicher Verbindungen einzubinden und somit auf ein besseres Verhalten zu hoffen, hat nicht funktioniert. Und es gibt große Fragen, was die Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie anbelangt – auch das ist ihr Vermächtnis, weil sie sich von der Kernenergie abwandte und Kernkraftwerke abschalten ließ. Eine Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten wurde zunächst als nicht machbar angesehen, aber auch wenn es die eine oder andere Hürde gab, hat sich Deutschland insgesamt bewegt. Das Land rüstet wieder auf, es erhöht die Verteidigungsausgaben und es hat gerade erst beschlossen, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern. Deutschland ist jetzt ein ganz anderer Staat als in den Jahren der Merkel-Ära.