Chefvolkswirt Johannes Mayr
Warum der Euro ein Reformprojekt ist

Johannes Mayr ist Chefvolkswirt der Anlagegesellschaft Eyb & Wallwitz. Foto: Eyb & Wallwitz / Canva
Europäische Währungsunion: Politik und Gesellschaft sind gefordert, die tiefergreifenden strukturellen Probleme zu lösen, die mit der Eurokrise sichtbar wurden, meint Johannes Mayr. Was das jedoch genau bedeutet und welche Wege daraus resultieren, erklärt er in seinem Beitrag.
Vor 25 Jahren wurde der Euro als gemeinschaftliche Währung eingeführt. Die Idee war, durch eine gemeinsame Währung die Integration Europas zu fördern, Handelsbarrieren zu reduzieren und den Wohlstand zu steigern. In den ersten Jahren schien dieser Plan aufzugehen.
Doch spätestens mit der Eurokrise wurden die tiefgreifenden strukturellen Probleme sichtbar. Diese sind lösbar. Aber die Entscheider ...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Gratis-Zugang:
Um die Autorisierung über LinkedIn zu aktivieren, müssen Sie sich registrieren.
Um die Autorisierung über Google zu aktivieren, müssen Sie sich registrieren.
Vor 25 Jahren wurde der Euro als gemeinschaftliche Währung eingeführt. Die Idee war, durch eine gemeinsame Währung die Integration Europas zu fördern, Handelsbarrieren zu reduzieren und den Wohlstand zu steigern. In den ersten Jahren schien dieser Plan aufzugehen.
Doch spätestens mit der Eurokrise wurden die tiefgreifenden strukturellen Probleme sichtbar. Diese sind lösbar. Aber die Entscheider und Entscheiderinnen scheuen bisher die Antwort auf eine zentrale Frage: Zurück zu Maastricht oder vorwärts zur politischen Union. Die politischen und finanziellen Kosten werden für beide Wege als zu hoch angesehen.
Dabei wird gerade in Deutschland häufig eines übersehen: Die höchsten Kosten fallen im „Weiter so“ an. Denn Europa fällt im internationalen Vergleich zunehmend zurück. Und das Risiko von politischen Krisen ist hoch. Das zeigt die aktuelle Entwicklung in Frankreich eindrucksvoll.

Schwachstellen der Währungsunion liegen offen
Vor der Einführung der Währung und in den ersten zehn Jahren danach profitierte der Süden Europas besonders von der Währungsunion. Das Wechselkursrisiko wurde ausgepreist. Ausländisches Kapital wurde angezogen. Die Zinsen sanken dramatisch und eröffneten der öffentlichen und der privaten Hand neue Finanzierungsmöglichkeiten.
All das hat den Ländern einen starken wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Gleichzeitig profitierte in den Kernländern die Industrie über einen starken Außenhandel. Auch hier fiel die Bilanz insgesamt positiv aus. In dieser Zeit schienen die offensichtlichen Konstruktionsfehler und strukturellen Schwachstellen der Währungsunion wenig relevant.
Doch die Eurokrise deckte diese schonungslos auf. Im Zuge der Finanzkrise zuvor schärften internationale Investoren ihre Risikoeinschätzung und bewerteten vor allem die hohen Verschuldungsniveaus der Staatshaushalte und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Währungsunion neu.
Den betroffenen Ländern drohte der Zugang zum Finanzmarkt versperrt zu werden. Es bedurfte erheblicher politischer und finanzieller Anstrengungen der Mitgliedsstaaten, um die Währungsunion zusammen zu halten. Im Zusammenspiel mit der EZB spannten sie große finanzielle Rettungsschirme, die ein Auseinanderbrechen und ein Wiederaufflammen verhindern sollten. „Whatever it takes“.
Kurzfristig gelang das. Aber über Jahre beschäftigte sich Europa notgedrungen vor allem mit sich selbst. Denn die entscheidenden strukturellen Schwachstellen der Währungsunion wurden nicht adressiert. Und das hatte enorme ökonomische Folgen. Seit dieser Zeit geht die Schere in der Wirtschaftsleistung zu anderen großen Wirtschaftsräumen wie den USA weit auseinander.
Euro-Raum war und ist kein optimaler Währungsraum
Kern des Problems ist die Struktur der Währungsunion selbst. Für das langfristige Funktionieren einer solchen gibt es theoretisch zwei Optionen. Die Erste fußt auf ökonomischer Homogenität der Mitgliedsstaaten und der Mobilität der Produktionsfaktoren. Eine Region erfüllt die Theorie eines optimalen Währungsraums, wenn Arbeit und Kapital innerhalb sehr mobil sind.
So finden beispielsweise in einem Land konjunkturell freigesetzte Arbeitskräfte in einem wirtschaftlich besser laufenden Mitgliedsland Beschäftigung. Die nationalen Sozialsysteme werden entlastet, der betroffene Staat kann sich der Konjunkturstimulierung widmen und kann diese dann auch ohne eigene Geld- und Wechselkurspolitik erreichen. Dabei darf es für Arbeitnehmer wie auch für Investoren keinen großen Unterschied machen, in Land A oder in Land B der Währungsunion zu arbeiten beziehungsweise zu investieren.
Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind, kann eine Währungsunion langfristig nur dann zusammengehalten werden, wenn sich die Mitgliedsstaaten auf zentrale und umfangreiche fiskalische Transfermechanismen zur Finanzierung von Ungleichgewichten und Bekämpfung ökonomischer Krisen einigen können.
Ein Beispiel ist der Länderfinanzausgleich in Deutschland oder die auf Bundesebene aufgebauten staatlichen Sozial- und Transfersysteme in den USA. Auch in diesem Szenario können die Mitgliedsstaaten auf eine eigene Geldpolitik verzichten.
In Europa war von Anfang an beides nicht gegeben. Um die Währungsunion und deren ökonomisch schwächste Glieder finanziell stabil zu halten und gleichzeitig das Risiko von Krisen und dann notwendigen Hilfsprogrammen und Transfers zu begrenzen, hatte man sich auf einen wirtschaftspolitischen und fiskalischen Regelrahmen verständigt.
Vor allem die Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung und der Budgetdefizite sollten verhindern, dass die Staaten zur Bekämpfung von binnenwirtschaftlichen Schwankungen und zur Steigerung der wirtschaftlichen Entwicklung zu sehr die günstigeren Finanzierungskonditionen nützen und so die Staatsfinanzen und damit letztlich ihre Bonität riskieren beziehungsweise die Haftung auf die anderen Mitgliedsstaaten übertragen.
Nach gut 25 Jahren zeigt sich, dass dies nicht wirklich funktioniert hat. So sind die wirtschaftlichen Zyklen und Wohlstandsniveaus der Mitgliedsländer nach wie vor sehr unterschiedlich. Dadurch kommen Geld- und Fiskalpolitik regelmäßig in schwieriges Fahrwasser. Gerade die Geldpolitik kann so ihre Stabilisierungsfunktion nur unzureichend erfüllen.

Denn für eine Ländergruppe ist die Ausrichtung stets zu expansiv, für die andere zu restriktiv. Die EZB setzt einen Zins für ein Land in der Mitte, das gar nicht existiert. Auch deshalb wird die Fiskalpolitik häufig zu expansiv eingesetzt und die Fiskalregeln haben nur eine geringe Bindungswirkung und Glaubwürdigkeit erreicht.
Dies gilt, solange bis entweder eine zentrale europäische Behörde tatsächliche Durchgriffsrechte auf die Verteilung der Finanzen übernimmt oder dem Zins die Rolle als Zuchtmeister rückübertragen wird. Diese Entscheidung zurück zu Maastricht oder hin zur Vollendung einer Europäischen Wirtschaftsunion steht aus, und ist unabdingbar.
Hohe Kosten des Status Quo
Denn nur auf den ersten Blick ist der Status Quo eines „Weiter so“ das kleinere Übel und begrenzt die Vergemeinschaftung. Deren offizieller Teil über den EU-Haushalt beträgt zwar nur in etwa 200 Milliarden Euro beziehungsweise 1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Darüber hinaus haben die Mitgliedsstaaten – ganz ohne Euro-Finanzminister – aber gewaltige Schattenhaushalte wie das NGEU etabliert, die ökonomisch nichts anderes als eine implizite Vergemeinschaftung von Verschuldung sind.
Noch bedeutender ist aber die Vergemeinschaftung von ökonomischem Risiko und ökonomischen Kosten über das Eurosystem der Notenbanken. Die Target-Salden weisen diesen Teil direkt aus und stehen aktuell bei deutlich über einer Billion Euro.
Noch umfangreicher ist das, was die EZB mit ihren Lockerungsprogrammen insgesamt bewirkt, insbesondere über Käufe von Staatsanleihen, was auch als eine Art Vergemeinschaftung interpretiert werden muss. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die EZB seit Einführung des Euro einen deutlich größeren Anteil des Anstiegs der Staatsverschuldung über Wertpapierkäufe finanzieren musste als die FED in den USA.

Dabei ist das Volumen der verdeckten Vergemeinschaftung zwar aus nationaler Sicht interessant und viel diskutiert. Tatsächlich steht es in der ökonomischen Bedeutung aber sogar nur an zweiter Stelle. Noch wichtiger sind die entgangenen Wohlfahrtsgewinne, die die aktuelle Struktur der Währungsunion bedingt. Dies zeigt ein Vergleich der ökonomischen Entwicklung seit Einführung des Euro.

Lag die Wirtschaftsleistung im Euro-Raum und den USA bis zur Finanzkrise in Dollar gemessen in etwa gleichauf, liegt sie in den USA nun doppelt so hoch. Das spiegelt sich am Kapitalmarkt. Die US-Märkte entwickeln sich seitdem viel stärker als die europäischen Märkte, vor allem auf der Aktienseite. Andere Symptome sind die strukturelle Schwäche des Euro und die geringe Attraktivität Europas für ausländisches Kapital.

Fazit: Entscheidung nicht einfach, aber unabdingbar
Will man diesen ökonomisch eigentlich prohibitiv teuren Mittelweg nicht weitergehen und gleichzeitig ein Aufbrechen der Währungsunion verhindern, steht Europa letztlich vor der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Einem Zurück zu Maastricht oder einem Vorwärts zur (wirtschafts-)politischen Union. Beide Wege sind nicht einfach und bedürfen erheblicher politischer und ökonomischer Anpassungen.
Das stärkste Argument gegen ein Vorwärts zur (wirtschafts-)politischen Union ist natürlich die Aufgabe nationaler politischer und fiskalischer Souveränität und der Widerstand dagegen. Letztlich würden die bisherigen Nationalstaaten ökonomisch (und wohl auch politisch) in einem Bundesstaat organisiert und auch verwaltet. Haftung und Risiko für die Wirtschaftspolitik wären in einer (europäischen) Hand.
Der politische Wille für diesen Weg ist aktuell aber in keinem Land erkennbar. Das zeigt das Ergebnis der Europawahl eindrucksvoll. Die Gründe für die Skepsis sind mannigfaltig und reichen von kurzfristigen politökonomischen Anreizen und finanziellen Argumenten bis zu Fragen der nationalen Identität.
Auf der anderen Seite ist ein Funktionieren des Maastricht-Regelrahmens ohne Marktdruck nicht realistisch. Um diesen wirken zu lassen müsste unter anderem das Risiko von Staatsinsolvenzen glaubhaft zugelassen werden.
Dies kann nur dann funktionieren, wenn das Finanzsystem insgesamt mit einer solchen Entwicklung umgehen kann und deutlich resilienter aufgestellt ist. Denn nur dann wird das No-Bailout Versprechen auch hinsichtlich großer Mitgliedsstaaten glaubwürdig. Notwendige Bedingung hierfür ist beispielsweise, dass europäische Banken das Solvenz- und Ratingrisiko für Staatsanleihen in ihren Bilanzen adäquat mit Kapital unterlegen.
Dies ist bisher politisch nicht durchsetzbar, auch da es wirtschaftliche Verwerfungen in Krisenzeiten verstärken könnte und auch die Anpassungskosten aus dem aktuellen Zustand erheblich wären. Denn die Kreditvergabe dürfte temporär erheblich unter Druck kommen. Zudem wäre gleichzeitig eine deutlich stärkere Rolle des Kapitalmarktes in der Finanzierung von Unternehmen unabdingbar, um Risiken breiter zu streuen.
All das sind dicke Reformbretter. Und der politische Druck einer gegenseitigen Stützung dürfte gerade im Fall von Problemen großer Mitgliedsstaaten wohl dennoch hoch bleiben.
Nach den Wahlen zum EU-Parlament scheint die Währungsunion einmal mehr an einem Scheideweg zu stehen. Klar ist aber auch: Politik und Gesellschaft sind gefordert, eine Entscheidung zu treffen. Dabei sollte stärker auf die Chancen geblickt und die hohen Opportunitätskosten eines „Weiter so“ in den Vordergrund gestellt werden.
Über den Autor