Volkswirt Henning Vöpel
Unionsbürgerschaft: Europa braucht eine starke Strategie

Volkswirt Henning Vöpel
Würde man heute Europäer danach fragen, wo sie am liebsten leben wollen – in China, in den USA oder eben in Europa –, so wäre die Antwort der allermeisten wohl eindeutig: In Europa. Wäre die Entscheidung, in welchen Kontinent man hineingeboren wird, eine Lotterie, so wäre das Los „Europa“ so etwas wie ein Hauptgewinn. Meinungsfreiheit, soziale Sicherung, Bildungschancen und kulturelle Vielfalt sind wohl nirgends so stark verankert und gesichert wie in Europa.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Identifikation mit Europa immer noch relativ gering ist. Der europäische „Staat“ wird offenbar als schwach, die europäische „Bürgerschaft“ dagegen als stark wahrgenommen. Das ist interessant, gehören Staat und Bürgerschaft als soziale Konzepte doch eigentlich eng zusammen. Dass im Falle Europas die Wahrnehmungen und Einschätzungen diesbezüglich auseinanderfallen, ist zugleich eine Chance: nämlich Europa stärker vom Blickwinkel einer europäischen Bürgerschaft im 21. Jahrhundert aus weiterzuentwickeln.
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Würde man heute Europäer danach fragen, wo sie am liebsten leben wollen – in China, in den USA oder eben in Europa –, so wäre die Antwort der allermeisten wohl eindeutig: In Europa. Wäre die Entscheidung, in welchen Kontinent man hineingeboren wird, eine Lotterie, so wäre das Los „Europa“ so etwas wie ein Hauptgewinn. Meinungsfreiheit, soziale Sicherung, Bildungschancen und kulturelle Vielfalt sind wohl nirgends so stark verankert und gesichert wie in Europa.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Identifikation mit Europa immer noch relativ gering ist. Der europäische „Staat“ wird offenbar als schwach, die europäische „Bürgerschaft“ dagegen als stark wahrgenommen. Das ist interessant, gehören Staat und Bürgerschaft als soziale Konzepte doch eigentlich eng zusammen. Dass im Falle Europas die Wahrnehmungen und Einschätzungen diesbezüglich auseinanderfallen, ist zugleich eine Chance: nämlich Europa stärker vom Blickwinkel einer europäischen Bürgerschaft im 21. Jahrhundert aus weiterzuentwickeln.
Wenn es um die Zukunft Europas geht, steht jedoch meistens die Frage im Mittelpunkt, wie eine weitere Staatenbildung aussehen könnte. Eine solche Sicht auf die europäische Integration ist aus der Historie und dem Status quo heraus nachvollziehbar, vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen, die den Staat und die Exekutive in das Zentrum des Handelns rücken: Wie sieht richtiges staatliches Handeln in der Pandemie, im Krieg oder im Klimawandel aus?
Gerade jetzt, im Systemwettbewerb Europas mit den USA und China, scheint der Moment für einen weiteren großen Schritt zur europäischen Integration gekommen zu sein. Interessanterweise wird dieser Moment verbunden mit der Vorstellung einer weiteren Zentralisierung und Ausweitung von staatlicher Zuständigkeit.
Dock kein Staat ohne Bürger. Schon bei Platon wird der Staat bei der Verwirklichung von Gerechtigkeit und des sittlich Guten vom Bürger aus gedacht ebenso wie später bei den Gesellschaftsvertragstheorien der europäischen, insbesondere der französischen und schottischen Aufklärung, in der ein vom Einzelnen ausgehender Vernunft- und Freiheitsbegriff hinzukommt, der bis heute in der ökonomischen Theorie als „methodologischer Individualismus“ fortbesteht.
Gedanklich steht also die Freiheit des Einzelnen vor der Gewalt des Staates, die ihn erst zum Bürger macht. Der Wert einer Staatsbürgerschaft ist damit vor allem durch den Schutz bürgerschaftlicher Freiheit, den sie gewährt, begründet.
Heute ist der Mensch mehr denn je in seiner Mündigkeit gefordert und in seiner Freiheit bedroht, etwa durch Cyber-Manipulation, die Macht monopolistischer Plattformen, autonome Künstliche Intelligenz oder den Kampf von Autokratien gegen die Demokratie von Innen und Außen. Es geht um Mündigkeit, Urteilskraft und um die Freiheit zur Wahrheit.
In Demokratien ist das größte gemeinsame Interesse jenes an der Wahrheit, denn sie ist der einzig vernünftige Ausgangspunkt für Fortschritt. In der Vernunft des Fortschritts liegt die Rationalität der Wahrheit. In Autokratien dagegen richtet sich das größte Interesse einer partikularen Macht auf die Verschleierung der Wahrheit, auf die Lüge. Das Wesen, die Stärke und die Methode der liberalen Demokratie ist die freie, offene und tolerante Debatte. Demokratiegefährdend kann nie die Debatte selbst, sondern immer nur deren Beschränkung sein.
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