Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater
Besteht die Wirtschaft den Nerventest?

Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater
Im Juni sind die Aktienkurse an den europäischen Börsen noch einmal deutlich gefallen, und diese Abwärtsbewegung setzte sich in den Juli hinein fort. Grund dafür war kein spektakuläres Ereignis, sondern vielmehr die zunehmende Wahrnehmung von Risiken insbesondere für die europäische Konjunktur. Allen Risiken voran steht die Gefahr einer unzureichenden Energieversorgung in den Wintermonaten. Es ...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Im Juni sind die Aktienkurse an den europäischen Börsen noch einmal deutlich gefallen, und diese Abwärtsbewegung setzte sich in den Juli hinein fort. Grund dafür war kein spektakuläres Ereignis, sondern vielmehr die zunehmende Wahrnehmung von Risiken insbesondere für die europäische Konjunktur. Allen Risiken voran steht die Gefahr einer unzureichenden Energieversorgung in den Wintermonaten. Es wird immer deutlicher, dass die russische Regierung die Erdgas-Lieferungen als politische Waffe nutzt, um die westeuropäische Wirtschaft und Gesellschaft zu destabilisieren.
Deutschland ist hiervon sehr stark betroffen, da es sich in der Vergangenheit in Unkenntnis der wahren Politikausrichtung Russlands in eine große Abhängigkeit von Erdgas-Lieferungen aus diesem Land begeben hat. Ob die deutschen Industrieunternehmen im Winter genügend Erdgas erhalten, um ihre Produktion aufrecht zu erhalten, hängt von den weiteren Lieferungen Russlands ab Mitte Juli ab, wenn die Wartung der wichtigsten Versorgungs-Pipeline abgeschlossen sein soll. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Arbeiten verzögern oder gar nicht abgeschlossen werden, ist nicht gering und damit die Gefahr, dass Erdgas unter den Unternehmen rationiert werden muss. Dann müssten Produktionsprozesse heruntergefahren, unterbrochen oder ganz beendet werden.
Dies hätte einen deutlich stärkeren negativen Effekt auf die Wirtschaftsleistung als ein weiterer Preisanstieg, bei dem eine solche Drosselung zudem über die Märkte gesteuert werden würde und nicht über die Zuteilungsentscheidungen der Behörden. Dabei können schnell Schneeballeffekte entstehen, wenn etwa Zwischenprodukte nicht mehr hergestellt werden können, die wiederum die Produktion weiterer Güter lahmlegen. Die bisherigen Ausfallschätzungen belaufen sich auf eine Spanne von wenigen bis zu 12 Prozentpunkten der deutschen industriellen Produktion im Winterhalbjahr 2022/23.
In einem mittleren Knappheitsszenario, bei dem noch 20 bis 40 Prozent der normalen Mengen geliefert würden, erscheint ein moderater Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland im Winterhalbjahr plausibel. Da die erste Jahreshälfte in diesem – und die zweite Jahreshälfte 2023 – weiterhin ein Wachstum erbracht hat beziehungsweise ergeben sollte, sind die Effekte auf die Gesamtjahre gesehen nicht ganz so groß: im Jahr 2022 bliebe ein Wachstum von 1,4 Prozent übrig, im kommenden Jahr ein Wachstum von einem Prozent. Trotzdem befände sich die deutsche Wirtschaft im Winter in einer leichten Rezession.
Die Abkühlung der konjunkturellen Dynamik ist bereits jetzt spürbar: Während in Coronazeiten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in allen Industrieländern dank großzügiger Nachfragestützung weiter anstieg, bröckelt sie gegenwärtig angesichts hoher Inflationsraten und gedrückter Verbraucherstimmung bereits ab. Selbst die Aktivität im Dienstleistungsbereich, die Anfang des Jahres durch das Ende der Lockdowns beflügelt worden war und die von Erdgaslieferungen weitgehend unabhängig ist, zeigt schon wieder Ermüdungserscheinungen.
Diese sehr stark in Europa liegenden Schwierigkeiten werden ergänzt durch eine Straffung der Geldpolitik in den Vereinigten Staaten, die weniger auf den Krieg in Osteuropa zurückzuführen ist, sondern vielmehr Korrekturmaßnahmen für die überdimensionierten Konjunkturprogramme der Jahre 2020 und 2021 darstellen. Sie sorgen auch in der größten Volkswirtschaft der Welt für eine deutliche Einbremsung der Konjunktur.
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