Chefvolkswirt Jörn Quitzau
Sind die Neuwahlen in Frankreich eine Gefahr für die Währungsunion?

Chefvolkswirt Jörn Quitzau
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sah sich aufgrund des starken Abschneidens der europakritischen Partei „Rassemblement National“ (RN) bei der Europawahl am 9. Juni veranlasst, Neuwahlen für das französische Parlament auszurufen. Die Wahl findet in zwei Durchgängen am 30. Juni und 7. Juli statt.
Umfragen zufolge liegt RN vor dem Linksbündnis NFP. Erst auf Platz 3 folgt mit deutlic...
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Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sah sich aufgrund des starken Abschneidens der europakritischen Partei „Rassemblement National“ (RN) bei der Europawahl am 9. Juni veranlasst, Neuwahlen für das französische Parlament auszurufen. Die Wahl findet in zwei Durchgängen am 30. Juni und 7. Juli statt.
Umfragen zufolge liegt RN vor dem Linksbündnis NFP. Erst auf Platz 3 folgt mit deutlichem Rückstand das Wahlbündnis Ensemble von Staatspräsident Macrons eigener Partei Renaissance. Aufgrund des komplizierten Mehrheitswahlrechts sind Prognosen über die künftigen Mehrheitsverhältnisse dennoch kaum möglich. Zudem lässt sich nicht sagen, welche konkreten politischen Massnahmen eine rechts- oder linkspopulistische Regierung tatsächlich umsetzen würde.
Maximalforderungen, die als Oppositionspartei oder im Wahlkampf formuliert werden, werden in der Regierungsverantwortung oft nur abgemildert in die Tat umgesetzt. Somit lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich nur ein allgemeines Unbehagen darüber formulieren, was in Frankreich theoretisch passieren könnte.
Aus wirtschaftlicher Sicht besteht insbesondere die Gefahr, dass die wachstumsfördernden Reformen von Macron auf den Prüfstand kommen und zumindest teilweise rückgängig gemacht werden. Hier sind die Arbeitsmarktreformen zu nennen. Aber auch eine mögliche Absenkung des Renteneintrittsalters wäre kontraproduktiv.
Letztlich würde eine Rolle rückwärts bei den Reformen die Wachstumskräfte Frankreichs schwächen und damit auch die Staatsfinanzen weiter belasten. Dies käme zur Unzeit, denn die hohen Staatsschulden und Haushaltsdefizite in Frankreich und mehreren anderen Ländern sind einmal mehr ein Problem.
Diese Woche wurde gemeldet, dass die EU-Kommission Defizitverfahren gegen insgesamt sieben Länder einleitet – gegen Frankreich, Italien, Belgien, Ungarn, Polen, Malta und die Slowakei. Frankreich muss bei einem Schuldenstand von rund 110 Prozent des BIP und einem Haushaltsdefizit von rund 5 Prozent den Gürtel enger schnallen. Oder es muss mehr Wachstum generieren, um die Steuereinnahmen zu erhöhen. Ein Politikansatz, der mehr auf Sozial- und weniger auf Wachstumspolitik setzt, würde zu Spannungen mit der EU-Kommission und zu Stress an den Finanzmärkten führen.
Frankreich hat also das Potenzial, temporär für einige Irritationen und Nervosität zu sorgen. Aber reicht das auch, um die gesamte Währungsunion letztlich in Gefahr zu bringen? Eher nicht. Um die Spannungen, die innerhalb der Währungsunion immer wieder auftreten, zu verstehen, muss man sich deren Entstehungsgeschichte vor Augen führen. Der Euro ist inzwischen ein rundes Vierteljahrhundert alt. Trotzdem gilt die Währungsunion bis heute als „unreif“, weil die Geldpolitik vereinheitlicht ist, die Finanzpolitik aber weiter bei den nationalen Regierungen liegt.
Seit der Eurokrise ab dem Jahr 2010 zeigen sich die Konstruktionsfehler sehr deutlich. Die Sorgen vor einem Zerbrechen der Währungsunion sind auch nach dem Ende der Eurokrise nie ganz verschwunden, weil einzelne Staaten Probleme mit ihrer Schuldentragfähigkeit haben. Der Anstieg der Zinsen setzte im Jahr 2022 insbesondere das hochverschuldete Italien unter Druck und hat die Risikoaufschläge auf italienische Staatsanleihen spürbar steigen lassen.
Die Europäische Zentralbank sah deshalb die Transmission ihrer Geldpolitik als potenziell gefährdet an und schuf im Juli 2022 das sogenannte „Transmission Protection Instrument“ (TPI). Damit erweitert sie ihren geldpolitischen Instrumentenkasten. Das neue Instrument kann aktiviert werden, um einer ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamik entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im gesamten Euro-Währungsgebiet darstellt.
Ob eine Marktdynamik – also ein kräftiger Zinsanstieg – aufgrund schlechter Fundamentaldaten eines Landes gerechtfertigt ist oder ob es sich um eine spekulative, ungerechtfertigte Übertreibung handelt, ist in der Praxis nur schwer zu entscheiden.
Eines ist aber klar: Die EZB hat sich selbst die Möglichkeit geschaffen, einer aufkommenden Unruhe im Markt entgegenzuwirken. Der Euro wird dadurch zusammengehalten, trotz aller struktureller Defizite. Schon vor dem „Transmission Protection Instrument“ gab es eine Reihe geld- und finanzpolitischer Maßnahmen, mit denen der Euro politisch stabilisiert und zusammengehalten wurde.
Die Idee der Europäischen Währungsunion ist bei Ökonomen von Anfang an mehrheitlich auf Skepsis gestoßen. Aus ihrer Sicht war die Zeit noch nicht reif für eine Währungsunion. Die designierten Euro-Teilnehmerländer waren wirtschaftlich noch zu unterschiedlich und der Euro erfüllte die Kriterien eines optimalen Währungsraumes nicht.
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