ZEW-Ökonom Heinemann
10 Prioritäten für die Reform von EU und Eurozone
Friedrich Heinemann: Der Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ sieht kritisch auf die aktuelle Lage der Europäischen Union. Foto: ZEW
Die diesjährige Europawahl findet in einer kritischen Phase des Integrationsprozesses statt, erklärt Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Der Wirtschaftsforscher benennt seine „zehn Prioritäten für die Reform von EU und Eurozone“.
1. EU und Euro haben Versprechen nicht einlösen können
Die Europawahl stellt die Weichen für die Zukunft von Europäischer Union und Eurozone in einer kritischen Phase des Integrationsprozesses. Das einst von breiter Zustimmung getragene Projekt der europäischen Integration hat in den Jahren vielfältiger Krisen stark an Popularität verloren. Nicht nur ist mit dem Vereinigten Königreich einer der großen und ökonomisch starken Mitgliedstaaten dabei, die Union zu verlassen. Auch der innere Zusammenhalt der verbleibenden Länder wird zunehmend durch neue Konfliktlinien gefährdet, die zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen West- und Osteuropa verlaufen. Dabei wäre es unzutreffend,...
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1. EU und Euro haben Versprechen nicht einlösen können
Die Europawahl stellt die Weichen für die Zukunft von Europäischer Union und Eurozone in einer kritischen Phase des Integrationsprozesses. Das einst von breiter Zustimmung getragene Projekt der europäischen Integration hat in den Jahren vielfältiger Krisen stark an Popularität verloren. Nicht nur ist mit dem Vereinigten Königreich einer der großen und ökonomisch starken Mitgliedstaaten dabei, die Union zu verlassen. Auch der innere Zusammenhalt der verbleibenden Länder wird zunehmend durch neue Konfliktlinien gefährdet, die zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen West- und Osteuropa verlaufen. Dabei wäre es unzutreffend, die schwindende Zustimmung zur EU nur als Problem mangelnder Kommunikation und populistischer Fehlinformation zu deuten.
Tatsächlich haben EU und Euro in den vergangenen Jahren ganz offenbar viele ihrer Versprechen nicht einlösen können: Die ökonomische Performance fällt hinter die anderer Industriestaaten zurück und einzelne Länder der Eurozone haben im vergangenen Jahrzehnt überhaupt nicht mehr am Wachstumsprozess des Binnenmarkts teilhaben können. Der institutionelle Rahmen des Währungsraums bleibt unzureichend und es ist nicht absehbar, wie die derzeitigen Institutionen neue Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrisen bewältigen könnten. Die Aufgabenteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten bleibt problematisch und der EU-Haushalt lenkt immer noch den Großteil seiner Ressourcen in die Agrar- und Kohäsionspolitik. Das Budget vernachlässigt hingegen Politikfelder mit viel klarer erkennbarem europäischem Nutzen.
Forschende des ZEW – Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung haben sich in den vergangenen Jahren in einer Vielzahl an Analysen mit diesen Herausforderungen befasst und verschiedene Schlussfolgerungen für die Reformperspektive von EU und Euroraum gezogen. Diese Erkenntnisse sind im Folgenden in zehn Prioritäten zusammengefasst.
2. Zehn Prioritäten
2.1 EU-Haushalt in Richtung „europäischer Mehrwert“ umschichten
Das neu gewählte Europaparlament verfügt über ein Vetorecht im Hinblick auf den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), der die Rahmendaten des EU-Haushalts für die Jahre 2021 bis 2027 fixieren wird. Das Parlament sollte sich endlich zum entschiedenen Befürworter einer weit reichenden Umschichtung im Haushalt machen. Die EU sollte vor allem solche Politiken finanzieren, die einen wirklichen „europäischen Mehrwert“ schaffen. Dieser Begriff ist keine Leerformel, sondern lässt sich operationalisieren und quantifizieren (Weiss 2013, Weiss et al. 2017). Eine europäische Politik schafft dann einen „Mehrwert“, wenn die EU eine Aufgabe zu geringeren Kosten erledigen kann oder überhaupt erst eine Leistung zu erbringen vermag, die die einzelnen Mitgliedstaaten ansonsten überfordern würde. Politikfelder, auf denen potenziell ein hoher europäischer Mehrwert erzielt werden kann, sind die Migrationspolitik, die Verteidigungspolitik, die Umwelt- und Klimapolitik sowie die Entwicklungspolitik. Für all diese Felder gilt, dass schlecht abgestimmte nationale Zuständigkeiten zu unbefriedigenden Politikresultaten mit noch dazu unnötig hohen Kosten führen. Diese Politikfelder gilt es daher auf europäischer Ebene auszubauen (Wambach 2017).
2.2 Mit dem Ausstieg aus den Direktzahlungen an Landwirte beginnen
Angesichts der genannten neuen EU-Prioritäten und des möglichen Verlusts eines wichtigen Nettozahlers durch den bevorstehenden Brexit ist es unverzichtbar, kostspielige Politikfelder mit einer fehlenden europäischen Rechtfertigung im Brüsseler Haushalt zurückzufahren. Die Direktzahlungen an Landwirte im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sind ein klarer Kandidat für Kürzungen (Wambach 2018). Diese Ausgaben absorbieren immer noch etwa 30 Prozent des gesamten EU-Haushalts. Sie erfüllen jedoch keine sinnvolle sozialpolitische Funktion, weil keine Bedürftigkeitsprüfung der Empfänger erfolgt und die flächenbezogenen Subventionen in erster Linie wohlhabende Bodenbesitzer begünstigen. Zudem setzen sie bislang auch keine nennenswerten Anreize für höhere Standards in den Bereichen Ökologie, Klimaschutz oder Tierschutz, die wesentlich über das gesetzlich ohnehin Erforderliche hinausgehen würden (Heinemann 2018c, Heinemann und Weiss 2018). Das Europäische Parlament hat in dieser Debatte bislang zu sehr als Besitzstandswahrer landwirtschaftlicher Interessen agiert und sollte diesen Kurs in der nächsten Legislaturperiode korrigieren, um im europäischen Haushalt Mittel für überzeugende europäische Aufgaben frei zu setzen. Direktzahlungen an Landwirte sollten in Zukunft allenfalls dann noch eine Rolle spielen, wenn die Betriebe messbare Gegenleistungen in Form von Klima-, Umwelt- oder Tierschutz erbringen, die deutlich über das gesetzlich ohnehin Verlangte hinausgehen.
2.3 Vorbedingungen für erfolgreiche Kohäsionspolitik verbessern
Neben der GAP ist die Kohäsionspolitik ein weiterer kostspieliger Posten im europäischen Haushalt. Der Gedanke, durch eine wirksame Förderung von Mitgliedstaaten und Regionen mit Entwicklungsrückstand einen Beitrag zur erfolgreichen Konvergenz im Binnenmarkt zu leisten, ist richtig. Allerdings ist die Erfolgsbilanz ernüchternd, wie dies an der schlechten ökonomischen Performance südeuropäischer Mitgliedstaaten – trotz jahrzehntelanger Begünstigung durch hohe Zahlungen aus den EU-Strukturfonds – erkennbar ist. Noch dazu ist die Politik wenig fokussiert: Hohe Beträge fließen auch an sehr wohlhabende Staaten und Regionen. Für eine zielgenaue und erfolgversprechende Neuausrichtung der Kohäsionspolitik sollte das nächste Parlament drei Ziele verfolgen: Erstens sollte die Kohäsionspolitik wieder auf ihre eigentliche Zielsetzung, die Förderung armer Regionen, konzentriert werden (Heinemann 2013).
Dadurch ließen sich nennenswerte Beträge einsparen und für neue Politikfelder mit europäischem Mehrwert nutzen. Zweitens muss die politische Unabhängigkeit der Gerichte in den Empfängerländern eindeutig als Vorbedingung für die Auszahlung gegeben sein. Die von der Europäische Kommission geforderte Verknüpfung von Kohäsionszahlungen mit der Rechtsstaatlichkeit des Empfängerlands ist gerechtfertigt, denn ohne unabhängige Justiz können Korruption und Mittelvergeudung nicht wirkungsvoll bekämpft werden (Heinemann 2018b). Drittens ist die unabhängige Evaluation der Kohäsionsprogramme unverzichtbar. Die bisherige Evaluationskultur auf europäischer Ebene genügt nach wir vor keinen Mindestanforderungen an methodische Standards und Unabhängigkeit (Heinemann 2016).
2.4 BNE-Eigenmittel aufwerten und nationale Kofinanzierung ausweiten
Das Europäische Parlament sollte das seit langem verfolgte Ziel aufgeben, für den EU-Haushalt eine eigene Steuerquelle zu erschließen. Eine neue Steuer für das Brüsseler Budget schafft mehr Probleme als sie löst (Osterloh et al. 2008). Der Haushalt ist heute zuverlässig und stabil durch Eigenmittel finanziert, die von den Mitgliedstaaten proportional zum Bruttonationaleinkommen aufgebracht werden („BNE-Eigenmittel“). Die BNE-Eigenmittel sind eine als fair empfundene transparente Art der Finanzierung. Jede neue Steuer würde neue Fairness-Fragen und Verteilungsdebatten auslösen, weil sie Mitgliedstaaten je nach gewählter Steuerbasis sehr unterschiedlich belastet.
Auch würde eine Steuerfinanzierung nicht das Problem lösen, dass Mitgliedstaaten zu stark darauf achten, was aus dem EU-Haushalt in ihre Länder zurückfließt. Noch dazu wären viele der diskutierten Steuerarten (z.B. Plastiksteuer, Finanztransaktionssteuer oder Körperschaftsteuer) denkbar intransparent in ihren Belastungswirkungen. Viel zielgenauer als eine Steuer für den EU-Haushalt wären daher stärkere nationale Eigenbeteiligungen („Kofinanzierung“) in der Agrar- und Kohäsionspolitik. Gerade auf diesen Gebieten, auf denen der europäische Nutzen einer Politik sehr zweifelhaft ist, sollten die Mitgliedstaaten deutlich mehr eigenes Geld zuschießen müssen. Für die transparente und faire Finanzierung der europäischen Ausgaben sollten die BNE-Eigenmittel eher noch aufgewertet werden, indem die Mehrwertsteuer-Eigenmittel entfallen, die nutzlos sind und unnötige Bürokratiekosten verursachen.
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