ZEW-Ökonom Heinemann
10 Prioritäten für die Reform von EU und Eurozone
Friedrich Heinemann: Der Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ sieht kritisch auf die aktuelle Lage der Europäischen Union. Foto: ZEW
Die diesjährige Europawahl findet in einer kritischen Phase des Integrationsprozesses statt, erklärt Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Der Wirtschaftsforscher benennt seine „zehn Prioritäten für die Reform von EU und Eurozone“.
2.5 Verbleibende Einstimmigkeits-Regeln in Steuer- und Finanzpolitik beibehalten
Entscheidungen über EU-Gesetze werden heute bereits auf den meisten Gebieten mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Es bleibt aber auf Gebieten mit wichtigen finanziellen Implikationen bislang bei der Einstimmigkeit im Rat. Dies gilt etwa für alle Entscheidungen in der Steuerpolitik und auch für Beschlüsse zum MFR. Diese Einstimmigkeits-Regeln sind in die Kritik geraten, auch im Europäischen Parlament. Diese kritische Sicht ist einseitig und überzogen. Einstimmige Entscheidungen haben immense Vorteile, gerade im Kontext der Steuerpolitik: Die Pflicht zum Konsens schützt einen einzelnen Mitgliedstaat...
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2.5 Verbleibende Einstimmigkeits-Regeln in Steuer- und Finanzpolitik beibehalten
Entscheidungen über EU-Gesetze werden heute bereits auf den meisten Gebieten mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Es bleibt aber auf Gebieten mit wichtigen finanziellen Implikationen bislang bei der Einstimmigkeit im Rat. Dies gilt etwa für alle Entscheidungen in der Steuerpolitik und auch für Beschlüsse zum MFR. Diese Einstimmigkeits-Regeln sind in die Kritik geraten, auch im Europäischen Parlament. Diese kritische Sicht ist einseitig und überzogen. Einstimmige Entscheidungen haben immense Vorteile, gerade im Kontext der Steuerpolitik: Die Pflicht zum Konsens schützt einen einzelnen Mitgliedstaat vor der Ausbeutung durch eine Mehrheit. Die Einstimmigkeit garantiert, dass in der Haushalts- und Steuerpolitik nur solche Projekte realisiert werden, die tatsächlich zum Vorteil aller EU-Staaten sind.
Mehrheitsentscheidungen über Steuern und Finanzen können zum Sprengsatz für den Integrationsprozess werden, wenn sie den in der Abstimmung unterlegenen Staaten erhebliche Kosten aufbürden. Die prominente Rolle der britischen Nettozahlungen an den EU-Haushalt in der Brexit-Kampagne zeigt, dass sich ein Land schon wegen vergleichsweise geringfügiger fiskalischer Belastungen von der EU abwenden kann. Die Einstimmigkeit stellt sicher, dass ein Land in Zukunft nicht den EU-Exit wählen muss, um eine als inakzeptabel empfundene Belastung in der EU-Haushaltspolitik oder -Steuerpolitik zu verhindern.
2.6 Schicksalsgemeinschaft von nationalen Bankensystemen und Staaten beenden
Die nächste EU-Kommission und das nächste Europaparlament werden weiter an der Reform der Eurozone arbeiten müssen. Viel ist in den vergangenen Jahren erreicht worden, um die Eurozone krisenfester zu machen. Ein großes Manko bleibt, dass die Schicksalsgemeinschaft von nationalen Bankensystemen und Mitgliedstaaten (der „Banken-Staaten-Nexus“) noch nicht ansatzweise gelockert werden konnte. Die aktuelle Entwicklung in Italien macht die großen Gefahren deutlich: Italienische Banken sind derart stark in Forderungen gegen den eigenen Staat engagiert, dass eine Zahlungsunfähigkeit der Italienischen Republik unmittelbar zum Kollaps des italienischen Bankensystems führen würde. Damit ist die Eurozone erpressbar durch populistische Regierungen geworden (Fuest und Heinemann 2017, Heinemann 2018a).
Regierungen können letztlich darauf spekulieren, dass die Eurozone einem Mitgliedstaat auch im Fall einer selbst verursachten Schuldenkrise durch Transfers helfen muss. Dies schwächt die Glaubwürdigkeit von Schuldenregeln und die Anreize für eine verantwortungsvolle nationale Politik. Die Mittel zur Auflösung des Banken-Staaten-Nexus sind lange bekannt und sollten endlich zur Anwendung kommen: Großkreditregeln und die Pflicht zur Eigenkapitalunterlegung müssen endlich auch für Forderungen von Banken gegen die eigenen Länder gelten. Dann würden Banken zur Risikostreuung gezwungen. Die Schuldenkrise eines Landes würde dann zu einem isolierten Problem und Hilfen der EU könnten glaubwürdig davon abhängig gemacht werden, ob das Problemland kooperiert oder nicht.
2.7 Insolvenzordnung für Euro-Staaten erarbeiten
Ein weiterer notwendiger Schritt zur Krisenfestigkeit der Eurozone ist die Erarbeitung einer Insolvenzordnung für Euro-Staaten. Letztlich bietet nur ein geordnetes Insolvenzverfahren die Gewähr dafür, dass eine Überschuldung eines Eurolandes nicht durch Zwangstransfers zu Lasten der Steuerzahler anderer Eurostaaten aufgefangen werden muss (Destais et al. 2019). Der Vorteil eines Insolvenzverfahrens ist, dass private Gläubiger einen Teil des Schadens tragen müssen, den sie selber durch ihre Kreditvergabe mit verursacht haben.
Dies verbessert die Anreize sowohl zu einer vorsichtigen Kreditvergabe auf Seiten potenzieller Gläubiger als auch zu einer soliden Finanzpolitik auf Seiten der Euro-Staaten. Die Etablierung einer Euro-Insolvenzordnung ist schwierig, zeitaufwändig und nicht ohne Risiken. Umso wichtiger ist, dass in der nächsten Legislaturperiode die Vorbereitungen anlaufen. Blaupausen für ein funktionsfähiges System und den Übergang dahin liegen vor und weisen dem Europäischen Stabilitätsmechanismus eine wichtige Rolle zu (Fuest et al. 2014, Fuest et al. 2016).
2.8 Versicherung gegen schwere Rezessionen als Teil eines Gesamtpakets einführen
Neben der Frage des Umgangs mit überschuldeten Staaten bleibt die Absicherung der Euro-Staaten gegen (unverschuldete) makroökonomische Schocks eine weitere Herausforderung. Die bessere makroökonomische Stabilisierung ist insbesondere ein französisches Anliegen, wie dies die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Einrichtung eines Eurozonen-Budgets belegen. Aber auch aus Sicht etwa der baltischen Staaten, die in den vergangenen Jahren sehr starken konjunkturellen Schwankungen unterworfen waren, sind solche Versicherungssysteme für schwere Rezessionen wichtig.
Kritisch für die politische Akzeptanz solcher Systeme sind Garantien, dass diese Systeme nicht für die Finanzierung langfristiger Transfers und zur Vergemeinschaftung von nationalen Schulden zweckentfremdet werden können. Aus diesem Grund sollten neue Institutionen wie etwa ein Eurozonen-Budget immer Teil eines umfassenden Reformpakets sein (Dolls et al. 2016). Dieses Gesamtpaket muss auch die beiden vorher genannten Elemente (Ende des Banken-Staaten-Nexus, Insolvenzordnung für Überschuldung) enthalten. Nur durch diese Paketlösung ist sichergestellt, dass eine Überschuldung zielgenau durch eine Schulden-Restrukturierung und nicht durch eine Transferlösung überwunden werden kann.
2.9 Stabilitätspakt durch eine größere Rolle für den europäischen Fiskalrat entpolitisieren
Die Europäische Kommission hat sich in ihrem Selbstverständnis in der zu Ende gehenden Amtsperiode immer mehr zu einer „politischen Institution“ entwickelt. Diese Entwicklung ist als solche nicht zu kritisieren. Gleichwohl ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Zuständigkeitskorrektur. Politiker sind keine guten Schiedsrichter. Die Juncker-Kommission hat in ihrer Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts einen sehr großen politischen Interpretationsspielraum genutzt und oftmals aus politischer Rücksichtnahme (Wahltermine, Furcht vor Wahlerfolgen populistischer Parteien, Unterstützung von präferierten Regierungen) den Interpretationsspielraum des Pakts sehr weit gedehnt. Beispiele der vergangenen Jahre betreffen etwa Frankreich und Italien.
Dies hat zur Folge, dass die im Zuge der Eurokrise präzisierten und verschärften Regeln ihre Wirkung bislang verfehlt haben und sich die Verschuldungssituation etlicher Staaten nicht verbessert hat. Glaubwürdige Regeln wird es in Zukunft nur dann geben, wenn das Wächteramt unpolitisch und neutral besetzt wird. Hier sollte dem Europäischen Fiskalrat (EFR) eine maßgebliche Rolle zukommen (Heinemann 2018d). Der EFR ist etabliert worden, um die Anwendung des Stabilitätspakts durch die Kommission neutral zu überwachen (Asatryan und Heinemann 2018). Die Unabhängigkeit des EFR sollte weiter gestärkt und seine Kompetenzen ausgeweitet werden: Er sollte die Zuständigkeit erhalten, über das Vorliegen eines übermäßigen Defizits zu entscheiden und dabei die vielen Ausnahmeklauseln des Pakts zu bewerten.
2.10 Mehr Raum für Entstehung einer europäischen Identität schaffen
Eine verbesserte ökonomische Performance alleine kann den Fortgang des Integrationsprozesses nicht garantieren. Wichtig sind jenseits der „harten Fakten“ von Ökonomie und Sozialem immer auch „weiche Faktoren“. Zu diesen zählt die Ausprägung einer „europäischen Identität“, die neben die nationalen oder regionalen Identitäten der Menschen tritt. Nur wenn sich Deutsche, Polen, Franzosen und Italiener gemeinsam auch „als Europäer“ fühlen, werden sie letztlich bereit sein, gemeinsam Politik zu betreiben und immer wieder erfolgreich nach Kompromissen auch bei unterschiedlichen nationalen Interessen zu suchen.
Bisherige Bemühungen zur Förderung einer europäischen Perspektive etwa durch die Erasmus-Programme für Studierende hatten mit den jungen Akademikern vor allem Zielgruppen im Blick, die ohnehin ein hohes Maß an europäischer Identifikation aufweisen. In Zukunft sollten EU-Programme verstärkt Zielgruppen in den Blick nehmen, denen es an grenzüberschreitenden Erlebnissen fehlt und die deshalb Europa im eigenen Leben kaum haben erleben können. Hier sind innovative Ideen wie „Erasmus für Rentner“ oder eine „Europäische Walz“, bei der Menschen in Berufen ohne Auslandskontakte Hilfestellung für Auslandseinsätze erhalten, zur Umsetzung zu empfehlen (Ciaglia et al. 2018).
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