Volkswirt Jörg Angelé
Die EZB hat 2023 für Zinsanhebungen keinen Spielraum mehr
Jörg Angelé ist Volkswirt bei Bantleon. Foto: Thomas Wieland
In der Eurozone birgt die fortgesetzte Straffung der Geldpolitik das Risiko, den wirtschaftlichen Abschwung zu verschärfen und mittelfristig Deflationsrisiken zu befeuern, ist Jörg Angelé von der Anlagegesellschaft Bantleon überzeugt. Hier sagt der Volkswirt, was er in den kommenden Monaten von den Geldpolitikern in Frankfurt erwartet.
Nachdem die Leitzinsen in der Eurozone seit 2011 nicht mehr angehoben wurden, hat es die EZB mit Zinserhöhungen nun auf einmal sehr eilig. Auf den überraschend großen Zinsschritt im Juli um 50 Basispunkte folgte im September eine noch stärkere Anhebung um 75 Basispunkte. Und das obwohl EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch Ende 2021 gesagt hatte, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Leitzinsen 2022 überhaupt steigen. Hinter der geldpolitischen 180-Grad-Wende steckt in erster Linie die massive Fehleinschätzung der Inflationsentwicklung durch die Währungshüter. Noch im März dieses Jahres waren sie davon ausgegangen, dass die Inflationsrate in der Eurozone 2023 und 2024 mit 2,1...
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Nachdem die Leitzinsen in der Eurozone seit 2011 nicht mehr angehoben wurden, hat es die EZB mit Zinserhöhungen nun auf einmal sehr eilig. Auf den überraschend großen Zinsschritt im Juli um 50 Basispunkte folgte im September eine noch stärkere Anhebung um 75 Basispunkte. Und das obwohl EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch Ende 2021 gesagt hatte, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Leitzinsen 2022 überhaupt steigen. Hinter der geldpolitischen 180-Grad-Wende steckt in erster Linie die massive Fehleinschätzung der Inflationsentwicklung durch die Währungshüter. Noch im März dieses Jahres waren sie davon ausgegangen, dass die Inflationsrate in der Eurozone 2023 und 2024 mit 2,1 Prozent beziehungsweise 1,9 Prozent dem mittelfristigen Inflationsziel der Notenbank in Höhe von 2,0 Prozent entsprechen wird. Nur sechs Monate später liegen die Prognosen bei 5,5 Prozent beziehungsweise 2,3 Prozent.
Abbildung 1: Die EZB hinkt hinterher
Davon abgesehen setzt die US-Notenbank Fed die EZB mit ihren Zinsanhebungen merklich unter Druck. Jenseits des Atlantiks wurde der Leitzins seit März bereits um 300 Basispunkte in die Höhe getrieben, weitere Anhebungen bis zum Jahresende auf 4,50 Prozent sind sehr wahrscheinlich (siehe Abbildung 1). In der Folge ist der Euro gegenüber dem Dollar stark unter Druck geraten und hat seit Beginn dieses Jahres bereits rund 12,0 Prozent an Wert verloren. Aus Sicht der EZB ist das eine unerwünschte Entwicklung, da sich insbesondere die vornehmlich in Dollar abgerechneten Importe von Rohstoffen verteuern und so zusätzlichen Inflationsdruck erzeugen.
Die EZB hat mithin allen Grund, weiter an der Zinsschraube zu drehen. Was die EZB-Präsidentin bisher allerdings schuldig blieb, ist eine Orientierung, wohin es mit den Zinsen eigentlich gehen soll. Lagarde hatte im Anschluss an das EZB-Ratstreffen Mitte September lediglich angekündigt, die Leitzinsen würden bei den nächsten Treffen weiter angehoben werden. Die Größenordnung der Zinsschritte soll dabei in Abhängigkeit der jeweiligen Datenlage erfolgen.
Keine klare Orientierung zum neutralen Leitzins
Welches konkrete Zinsniveau die EZB anstrebt, um das Erreichen des eigenen mittelfristigen Inflationsziels zu gewährleisten, blieb allerdings offen. Anders als die Fed hat die EZB bisher nicht klargestellt, bei welchem Wert sie das neutrale Zinsniveau sieht beziehungsweise ob dieser Wert nur erreicht oder übertroffen werden soll, sprich eine restriktive geldpolitische Ausrichtung angestrebt wird. Damit fehlt den Finanzmärkten eine klare Orientierung.
Als neutraler Leitzins wird das Leitzinsniveau bezeichnet, bei dem die Konjunktur weder gedämpft noch stimuliert wird. Damit wird in der Theorie gewährleistet, dass der (unterliegende) Verbraucherpreisauftrieb, das heißt die Inflation ohne volatile Einflussfaktoren wie Energie- und Nahrungsmittelpreise dem von der Notenbank angestrebten Wert von 2,0 Prozent entspricht.
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