Wenn Deutschlands Top-Manager wie Allianz-Chef Oliver Bäte sprechen, finden sie fast automatisch Gehör. Das liegt nicht nur an ihrer Rolle und Bekanntheit. Die Konzernlenker der ersten Reihe äußern sich in der Regel eher selten und dann gerne zu sehr Grundsätzlichem. Es geht um die große Politik, die Gesellschaft oder die Arbeitswelt.
Doch so polarisierend und aufmerksamkeitserregend wie der aktuelle Bäte-Vorschlag kam selten eines der angestoßenen Themen daher. Seine Vorstellung, angesichts des gestiegenen Krankenstands in Deutschland, den sogenannten Karenztag wieder einzuführen, mit der Folge, dass Arbeitnehmer ihren ersten Krankheitstag selbst bezahlen, schaffte er es in die Hauptnachrichtensendungen der Republik und polarisierte das ganze Land.
Krankheitstage: Zwischen 15 und 20 im Jahr
In einem Interview hatte Bäte erklärt, dass dieser Schritt dazu beitragen könne, die Kosten im Gesundheitssystem zu senken. Arbeitnehmer in Deutschland seien im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank, während der EU-Schnitt bei acht Krankheitstagen liege.
Kritik kam auch aus der Start-up-Branche. Tobias Stüber, Chef der Bus-Buchungsplattform Flibco, lehnt unbezahlte Krankheitstage ab. Zu „Bild“ sagte er: „Ich kann dem CEO der Allianz versichern, dass er mit seinem Vorschlag falsch liegt! Mitarbeiter vertrauen keinem Unternehmen, das sie für Krankheit bestraft. Der Vorschlag, bei einem Tag Krankheit das Gehalt zu reduzieren, ist absurd.“
Von wem Bäte Zustimmung bekam
Aus der Politik war das Echo gemischt. Zustimmung erntete Bäte unter anderem von Mercedes-Chef Olaf Källenius: „Der hohe Krankenstand ist ein Problem für die Unternehmen. Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen.“
Der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen sagte: „Die Einführung eines unbezahlten Krankheitstages ist ein sinnvoller Vorschlag und sollte von der nächsten Regierung zügig umgesetzt werden.“ Er forderte sogar drei Karenztage.
NAG nutzt Äußerungen zum Rundumschlag gegen die Branche
Doch wie sieht es die Versicherungsbranche, der Bäte angehört, selbst? DAS INVESTMENT hat sich hier einmal exklusiv umgehört.
Wenig überraschend gab sich vor allem die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) kritisch und wies Bätes Forderungen zurück. Sie spricht von „einer Bestrafung kranker Beschäftigter durch Lohnkürzungen“. „Die Vorstände der Versicherungswirtschaft überbieten sich in den letzten Monaten immer weiter mit Forderungen zulasten der Beschäftigten“, sagte Gaby Mücke, Vorsitzende der Gewerkschaft.
Und weiter: „Während aber die Dividenden immer weiter steigen und die Vorstandsbezüge in den vergangenen Jahren nicht nur in der Allianz zweistellige Zuwachsraten erfahren haben, sehen sich die Belegschaften der Versicherungswirtschaft mit einem massiven Reallohnverlust konfrontiert. Auf diesen Reallohnverlust will Herr Bäte nun noch Lohnkürzungen für Kranke draufsatteln, um die Milliardengewinne, die Aktionärsdividenden und die Vorstandsbezüge weiter zu steigern.“
Vorstände für durch Arbeitsbedingungen verursachte Krankheiten verantwortlich
Tatsächlich leiden die Beschäftigten der Branche aus Sicht der NAG unter einer unzureichenden Personalausstattung, hohen Krankheitsquoten und überbordender Mehrarbeit. „Die Arbeitsbedingungen, für die die Vorstände verantwortlich sind, tragen zu Krankheiten bei, die dann von den Beschäftigten selbst bezahlt werden sollen.“
Stattdessen müssten die Arbeitsbedingungen insgesamt verbessert werden, um auch mit Blick auf die Demografie der Branche zu einer deutlich höheren Arbeitgeberattraktivität zu verhelfen, so die Lobbyisten, die derzeit mitten in der Tarifauseinandersetzung mit den Arbeitgebern der Branche stecken.
BVK lehnt Bäte-Vorschlag aus Gründen der Mitarbeitermotivation ab
Kritisch äußerte sich auf Anfrage von DAS INVESTMENT der Bundesverband Deutscher Versicherungskaufleute (BVK): „Grundsätzlich steht der BVK Vorschlägen zur Kostenreduktion für Arbeitgeber und Reformen des Sozialsystems aufgeschlossen gegenüber. Aber bezüglich des aktuellen Vorschlags des Allianz-Vorstandsvorsitzenden Oliver Bäte den ersten Krankheitstag von Arbeitnehmern nicht zu bezahlen, halten wir aus Gründen der Mitarbeitermotivation und aus sozialen Gesichtspunkten für nicht zielführend“, so BVK-Präsident Michael H. Heinz.
Und wie sehen es die Allianz-Konkurrenten? Einige der von uns angefragten Unternehmen wollten sich nicht zum Bäte-Vorschlag oder der Situation in ihren eigenen Unternehmen in Sachen Krankenstand äußern oder reagierten nicht auf die Anfrage, so Ergo, Debeka, Generali, Huk-Coburg, Munich Re und R+V. Eine AXA-Sprecherin schrieb, dass man keinen vom Bundesdurchschnitt abweichenden Krankstand zu verzeichnen habe, man aber keine konkreten Zahlen öffentlich kommunizieren wolle.
Talanx: Umgang mit Krankheitstagen als Teil einer größeren Agenda
Offen für den Vorschlag zeigte sich die Talanx: Man begrüße Diskussionen, die die Rahmenbedingungen für Unternehmen und damit die Wettbewerbsfähigkeit verbessern können. „Wir plädieren dafür, eine umfassende Agenda aufzustellen, um die Wirtschafts- und Innovationskraft Deutschlands nachhaltig zu stärken. So können Einzelmaßnahmen wie zum Beispiel der Umgang mit Krankheitstagen im Kontext aller Ideen bewertet werden“, so eine Sprecherin des Unternehmens.
Die Krankheitsquote sei in den vergangenen Jahren leicht gesunken. „Mit etwas mehr als zehn Krankheitstagen pro Jahr liegen wir mit unseren Mitarbeitenden in Deutschland leicht unter dem Branchenschnitt.“
Signal Iduna sieht bei Versicherern nur geringen Effekt
Nur vage äußerte sich die Signal-Iduna-Gruppe zum Bäte-Vorschlag: „Die Wiedereinführung des Karenztages würde die Unternehmen bei den Lohnfortzahlungskosten entlasten“, sagte Personalleiter Tobias Vögele. Allerdings seien in der Versicherungswirtschaft die tatsächlichen Kosteneinsparungen wahrscheinlich eher geringer, weil viele Mitarbeiter eine flexible Arbeitszeitgestaltung nutzen könnten.
Vögele weiter: „Wir hatten im letzten Jahr ein paar Hochzeiten bei den Krankenständen mit vielen Atemwegserkrankungen im Herbst und Winter. Insgesamt lag unser Krankenstand letztes Jahr mit rund 7 Prozent im Schnitt der Branche und leicht höher als in den Vorjahren in der Branche.“
Versicherungskammer: Vertrauenskultur braucht keinen Karenztag
Ablehnend zur Bäte-Forderung äußerte sich auf die DAS-INVESTMENT-Anfrage die Versicherungskammer Bayern. Eine Sprecherin schrieb: „ Seit vielen Jahren pflegen und stärken wir aktiv unsere Vertrauenskultur. Die Wiedereinführung eines unbezahlten Karenztags wäre in diesem Sinn nicht förderlich.“ Man beobachte seit mehr als einem Jahrzehnt eine kontinuierliche Entwicklung des Krankenstands, der im Durchschnitt einen leichten Anstieg verzeichnet.