Normalerweise fliegen Goldbarren über den Atlantik – teuer, aber der Wert rechtfertigt die Kosten. Doch seit Kurzem reservieren Händler Frachtraum in Transatlantikflügen auch für Silber. Was nach einer Kapriole klingt, offenbart die dramatische Lage am Edelmetallmarkt: In London herrscht Silbermangel, die Preisaufschläge gegenüber New York sind so hoch wie nie. Händler verdienen mit dem Arbitragegeschäft genug, um die teuren Flüge zu rechtfertigen.
Am Freitag durchbrach die tägliche Silberauktion in London – eine Tradition seit 1897 – erstmals die Marke von 50 Dollar je Feinunze, am Montag waren es sogar 52 US-Dollar – und näherte sich damit dem historischen Höchststand von 52,50 Dollar aus dem Jahr 1980. Parallel erreichte Gold ein neues Allzeithoch bei 4.068 Dollar. Seit Jahresbeginn haben die vier großen Edelmetalle – Gold, Silber, Platin und Palladium – zwischen 50 und 80 Prozent zugelegt. Der Rohstoffmarkt ist wie entfesselt.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen. Was wir bei Silber erleben, ist völlig beispiellos“, sagt Anant Jatia, Investmentchef bei Greenland Investment Management, gegenüber „Bloomberg“. „Es gibt derzeit keine Liquidität.“
Knappheit in London treibt die Preise
Die spektakuläre Silber-Rally hat mehrere Ursachen. In London ist es zu einem historischen Short Squeeze gekommen: Spekulanten, die auf fallende Preise gewettet hatten, mussten ihre Positionen schließen und Metall kaufen – genau in einem Moment, in dem die frei verfügbaren Bestände ohnehin knapp waren. Das trieb die Preise zusätzlich nach oben.
Der Squeeze hat tiefere Ursachen als nur kurzfristige Spekulation. Der Silbermarkt stützt sich auf Hunderte Millionen Unzen Silber, die in Londoner Tresoren lagern und Liquidität gewährleisten. Doch dieser Bestand ist in den vergangenen Jahren stetig geschrumpft: Erst durch anhaltende Defizite, weil die Minenproduktion nicht mit der Nachfrage von Investoren und Industrieanwendungen wie Solarmodulen Schritt halten konnte. Dann, in diesem Jahr, durch eine Welle von Metallexporten in die USA aus Angst vor Zöllen.
Handelskonflikte und Zollängste
Auch geopolitische Unsicherheiten befeuern die Nachfrage nach sicheren Häfen. Am Wochenende forderte China die USA auf, Zolldrohungen zu beenden und zu Verhandlungen zurückzukehren. US-Präsident Donald Trump hatte zuvor mit einem zusätzlichen Zoll von 100 Prozent auf chinesische Waren gedroht, zeigte sich am Wochenende aber versöhnlicher. Die Handelsunsicherheit erhöht die Attraktivität vermeintlicher „Safe Havens“ wie Gold.
Händler blicken zudem nervös auf die bevorstehenden Ergebnisse der sogenannten Section-232-Untersuchung der US-Regierung zu kritischen Mineralien – darunter Silber, Platin und Palladium. Die Sorge, dass neue Zölle auf diese Metalle erhoben werden könnten, verschärft die Marktanspannung und legte den Grundstein für den Short Squeeze bei Silber.
Gold profitiert von Zentralbanken und ETF-Zuflüssen
Der Aufstieg von Gold in diesem Jahr stützt sich auf mehrere Faktoren: Zentralbanken kaufen weiter große Mengen des Edelmetalls, die Bestände in börsengehandelten Fonds (ETFs) steigen, und die US-Notenbank Federal Reserve hat Zinssenkungen eingeleitet. Hinzu kommen wiederkehrende Handelsspannungen, Bedrohungen der Unabhängigkeit der Fed und ein zeitweiser Regierungsstillstand in Washington.
Die außergewöhnliche Preisentwicklung bei Edelmetallen in diesem Jahr zeigt: In unsicheren Zeiten suchen Investoren Schutz – und sind bereit, dafür deutlich mehr zu zahlen als noch vor wenigen Monaten.

