Schwellenländer-Index Indien-Boom im MSCI Emerging Markets stockt – was Anleger jetzt wissen müssen
Ausgerechnet der Überflieger schwächelt: Der indische Aktienmarkt hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Rally hingelegt und mauserte sich damit zum Shootingstar unter den Schwellenländern. Im Performance-Ranking des Analysehauses Scope haben indische Aktien im ersten Halbjahr sogar globale Technologie-Fonds geschlagen. Und während chinesische Aktien zwischen Oktober 2021 und Oktober 2023 jährlich 8,2 Prozent verloren, legten indische Titel in US-Dollar gerechnet im gleichen Zeitraum um 9,5 Prozent zu.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Gewichtungen des MSCI Emerging Markets Index wider: Im Mai erhöhte MSCI die Gewichtung Indiens in seinem Schwellenländerindex auf fast 19 Prozent, gegenüber rund 9 Prozent im Jahr 2020. Chinas Gewichtung sank währenddessen von rund 40 auf unter 30 Prozent.
Massive Korrektur: Die Probleme am indischen Aktienmarkt
Doch von der Euphorie ist derzeit nicht mehr viel übrig – der indische Aktienmarkt steht unter erheblichem Druck. Die wichtigsten Leitindizes Sensex und Nifty 50 haben seit ihren Rekordhochs Ende September fast 10 Prozent eingebüßt. Allein im Oktober gab der Nifty 50 um 6,2 Prozent nach, während der Sensex einen Rückgang von 5,8 Prozent verbuchte. Parallel dazu fiel die Landeswährung Rupie fast auf ihr historisches Tief gegenüber dem US-Dollar.
Die Gründe für die Korrektur sind:
- der massenhafte Rückzug ausländischer Investoren,
- enttäuschende Quartalsergebnisse,
- der Korruptionsskandal um den einflussreichen Unternehmer Gautam Adani.
Massenhafter Rückzug ausländischer Investoren
Im Oktober zogen ausländische Investoren mehr als 10 Milliarden US-Dollar aus indischen Aktien ab. Dieser Rückzug war der größte monatliche Kapitalabfluss seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie.
Die Umschichtungen der internationalen Investoren werden auch durch die jüngste Entwicklung in China getrieben. Viele Anleger, die bisher stark in Indien investiert und in China untergewichtet waren, nutzten die Erholung am chinesischen Markt für Portfolioanpassungen. „Im Oktober gab es unter anderem starke Zuflüsse in ETFs, die in chinesische Aktien investieren. Die Positionierung in China war bis dahin allgemein eher schwach. Die Ankündigung von wirtschaftsfördernden Maßnahmen hat die Stimmung der Investoren bezüglich China etwas aufgehellt, sowohl im Ausland als auch in China selbst“, erklärt Claus Born, institutioneller Portfoliomanager für Franklin Templeton.
Enttäuschende Quartalsergebnisse
Neben den Investitionen gingen auch die Unternehmensgewinne zurück. Die jüngsten Quartalszahlen der indischen Unternehmen enttäuschten Analysten und Anleger gleichermaßen. Ein Großteil der börsennotierten Konzerne verfehlte die Gewinnerwartungen, was vor allem auf eine deutliche Abschwächung des privaten Konsums zurückzuführen ist. Laut Goldman Sachs überwiegen die negativen Überraschungen bei den Quartalszahlen die positiven. Die Investmentbank stufte daraufhin indische Aktien von „übergewichten“ auf „neutral“ herab.
Korruptionsskandal um Gautam Adani
Für zusätzliche Verunsicherung am indischen Aktienmarkt sorgt der Korruptionsskandal um den Multimilliardär Gautam Adani. Der einst drittreichste Mann der Welt wird in den USA angeklagt. Der Vorwurf: Er soll sich durch Schmiergeldzahlungen milliardenschwere Aufträge gesichert haben – was Adani entschieden zurückweist.
Die Anklage hatte drastische Auswirkungen auf die Börse: Der Marktwert der in Indien gelisteten Adani-Unternehmen brach innerhalb eines Tages rund 27 Milliarden US-Dollar ein. Die wichtigste Gesellschaft des Konglomerats, Adani Enterprises, verlor rapide.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Unternehmer für negative Schlagzeilen sorgt. Vor etwa zwei Jahren beschuldigten Leerverkäufer den Konzern der Kursmanipulation und Bilanzfälschung, was zu einem temporären Wertverlust von über 150 Milliarden US-Dollar führte. Auch diese Vorwürfe wies Adani zurück.
Zum Geschäftsimperium des Unternehmers gehören neben der Holdinggesellschaft Adani Enterprises auch Energieversorger und Hafenbetreiber. Indischen Medienberichten zufolge haben heimische Banken dem Konglomerat mehr als 10 Milliarden US-Dollar an Krediten gewährt.
Indien im MSCI Emerging Markets: Auswirkungen auf ETF-Anleger
Die Entwicklung ist nicht nur für ETF-Anleger, die speziell auf Indien setzen, sondern auch für Schwellenländeranleger relevant. Denn: Der Anteil des Subkontinents am MSCI Emerging Markets Index hat sich innerhalb von zwei Jahren von etwa 10 auf fast 20 Prozent verdoppelt.
Damit spielt Indien für Schwellenländeranleger heute eine ähnliche Rolle wie die US-Mega-Caps für Industrieländeranleger. In guten Phasen treiben sie den Index, aber wenn es mal nicht so läuft, ziehen sie den Index durch ihre hohe Gewichtung mit runter.
Müssen Anleger sich nun also darauf einstellen, dass Indien weiter schwächelt und ETFs auf den MSCI Emerging Markets Index mit nach unten zieht, anstatt ihn wie in den vergangenen Jahren anzutreiben?
Hohe Bewertung indischer Aktien
Was den Rückzug ausländischer Investoren angeht, zeigt sich Colin Croft, Investmentmanager bei Jupiter Asset Management, eher optimistisch. „Im Vergleich zu anderen Märkten, die von unberechenbaren internationalen Anlegern abhängig sind, verfügt Indien über eine bedeutende inländische Anlegerbasis.“ Die Investoren aus dem eigenen Land hätten in den vergangenen Jahren die Verkäufe ausländischer Anleger oft ausgleichen können. Das habe die Schwankungen an den Märkten auf einem niedrigen Niveau gehalten.
Ygal Sebban, Investment Director Emerging Market Equity bei GAM Investments, beobachtete die Entwicklungen am indischen Aktienmarkt mit gemischten Gefühlen: „Im Zusammenhang mit der Energiewende bieten sich enorme Chancen. Ein Unternehmen, das wir in Indien sehr schätzen, ist Reliance Industries, bei dem das Geschäft mit erneuerbaren Energien eine wichtige Rolle spielt. Wir erwarten einen bedeutenden Katalysator durch die Börsennotierung ihrer Telekommunikations- und Einzelhandelsgeschäfte in den kommenden Quartalen. Trotz positiver Aussichten sind wir jedoch der Meinung, dass der indische Aktienmarkt im Allgemeinen teuer ist und wir demzufolge untergewichtet sind“, erklärt der Experte.
ETFs im Fokus
Starke Fundamentaldaten
Langfristig sprechen jedoch viele Faktoren für den Standort Indien. Marcus Weyerer, ETF-Stratege bei Franklin Templeton, verweist auf die rapide Urbanisierung und Industrialisierung des Landes: „Unter Premierminister Modi hat das Land bedeutende Reformen erlebt, die darauf abzielen, ausländische Investitionen anzuziehen und Produktionskapazitäten aufzubauen.“
Als Beispiel nennt Weyerer den Mobiltelefonsektor: „Noch vor zehn Jahren war Indien hier kein relevanter Marktteilnehmer und importierte fast alle Mobiltelefone. Heute deckt das Land rund 97 Prozent seines eigenen Bedarfs aus lokaler Produktion.“
Die Fondsmanager Avinash Vazirani und Colin Croft von Jupiter Asset Management verweisen auf die robuste Außenbilanz des Landes. Die Auslandsverschuldung betrage nur noch ein Fünftel des indischen BIP, während das Leistungsbilanzdefizit vollständig durch langfristige ausländische Direktinvestitionen finanziert werde.
Prognose: Drittgrößte Volkswirtschaft bis 2031
Laut einem Bericht von Morgan Stanley könnte Indien bis 2031 zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Im laufenden Fiskaljahr prognostiziert die indische Notenbank RBI ein Wachstum von 7,2 Prozent – damit wäre Indien die wachstumsstärkste große Volkswirtschaft weltweit. „Indien gehört zu den wenigen Märkten weltweit, bei denen das Wachstum sehr klar absehbar ist“, sagt Abhay Laijawala, Leiter Offshore-Investitionen beim Asset Manager Robeco.
Anleger sollten sich dennoch auf weitere Volatilität einstellen. Experten wie Goldman Sachs und HSBC sehen zwar Kurssteigerungspotenzial von etwa 15 Prozent in den nächsten zwölf Monaten. Der aktuelle Korruptionsskandal verdeutlicht jedoch die Risiken des indischen Aktienmarktes. Zudem leben nach Schätzungen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) 10 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit – insbesondere bei Jugendlichen – ist hoch.
Für ETF-Anleger bedeutet dies: Eine Übergewichtung Indiens im Portfolio sollte gut überlegt sein. Der hohe Anteil im MSCI Emerging Markets Index sorgt bereits für ein erhebliches Exposure. Wer zusätzlich in reine Indien-ETFs investiert, erhöht damit sowohl die Chancen als auch die Risiken deutlich.