Finanzexperte Jan Viebig
Brauchen wir neue Notenbanker?
Jan Viebig ist Investmentchef der Privatbank Oddo BHF. Foto: Oddo BHF
Die Inflation flackerte in westlichen Industrieländern bereits vor einem Jahr auf. Notenbanker ließen sich davon jedoch zunächst nicht beeindrucken und hielten die Zinsen niedrig. Jan Viebig von der Privatbank Oddo BHF nennt Gründe für dieses Vorgehen.
Zur Jahresmitte 2021 hin begann in den westlichen Industrieländern die Inflation aufzuflackern. Bis Ende 2021 hatte sich der Verbraucherpreisanstieg in den USA auf 7,1 Prozent (CPI), im Euroraum auf 5,0 Prozent (HVPI) beschleunigt. Die Notenbanker wurden zwar vorsichtiger, doch letztlich brauchte es den Angebotsschock durch den Krieg in der Ukraine, bis die Währungshüter tatsächlich aktiv wurden. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) nahm die erste Leitzinserhöhung im März 2022 vor, die EZB zögerte noch bis Juli 2022, um den zinspolitischen Kurswechsel zu vollziehen.
Daniel Gros und Farzaneh Shamsfakhr vom Brüsseler Think-Tank Centre for European Policy Studies kommen in einer Analyse...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Zur Jahresmitte 2021 hin begann in den westlichen Industrieländern die Inflation aufzuflackern. Bis Ende 2021 hatte sich der Verbraucherpreisanstieg in den USA auf 7,1 Prozent (CPI), im Euroraum auf 5,0 Prozent (HVPI) beschleunigt. Die Notenbanker wurden zwar vorsichtiger, doch letztlich brauchte es den Angebotsschock durch den Krieg in der Ukraine, bis die Währungshüter tatsächlich aktiv wurden. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) nahm die erste Leitzinserhöhung im März 2022 vor, die EZB zögerte noch bis Juli 2022, um den zinspolitischen Kurswechsel zu vollziehen.
Daniel Gros und Farzaneh Shamsfakhr vom Brüsseler Think-Tank Centre for European Policy Studies kommen in einer Analyse im Auftrag des Europäischen Parlaments zu der Einschätzung, dass die EZB ihre expansive Geldpolitik zu lange fortgesetzt und die Inflation systematisch unterschätzt habe. Ein Fehler sei gewesen, dass die EZB beständig daran festgehalten habe, dass die Inflation sich schnell wieder ihrem Inflationsziel von 2 Prozent annähern werde. Insgesamt würden die Modelle der EZB zu langsam auf stärkere Veränderungen des Inflationsumfelds reagieren. Die EZB befindet sich damit in guter Gesellschaft.
Der Stanford-Ökonom John Cochrane kommt für die US-Notenbank zu einer ganz ähnlichen Einschätzung: Auch die Fed hat die Inflation lange unterschätzt. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich ebenfalls auf die Fed. Die renommierten Ökonomen Olivier Blanchard, Alex Domash und Lawrence Summers stellen die sogenannte Beveridge-Kurve, ein wichtiges Instrument zur Analyse des Arbeitsmarktes, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Die Beveridge-Kurve stellt die Zahl der offenen Stellen (im Verhältnis zum Arbeitskräftepotenzial) der Arbeitslosenquote gegenüber (siehe Grafik).
Rückgang der offenen Stellen ohne Anstieg der Arbeitslosigkeit?
Was unmittelbar ins Auge fällt: Die Zahl der offenen Stellen ist momentan ungewöhnlich hoch. Die Bekämpfung der Inflation erfordert eine weitere Anhebung der Leitzinsen. Höhere Zinsen bedeuten wiederum, dass die volkswirtschaftliche Aktivität zurückgeht, die Zahl der offenen Stellen abnimmt und die Arbeitslosigkeit steigt. Blanchard et al. weisen darauf hin, dass seit den 1950er Jahren noch nie die Zahl der offenen Stellen zurückgekommen sei, ohne dass die Arbeitslosigkeit gestiegen sei. Mit anderen Worten: Die Aussagen von Fed-Chef Jerome Powell, dass die Fed die Zinsen erhöhen und das Wachstum abbremsen könne, ohne dass die Arbeitslosigkeit steige, ist vermutlich von politischem Wunschdenken geprägt.
Der Federal Reserve Governor Chris Waller behauptet mit seinem Co-Autor Andrew Figura in einer langatmigen Feds-Note gar, dass diesmal auch etwas Ungewöhnliches passieren könne. Das ist immer möglich. Es ist aber schlechte Ökonomie, den empirischen Zusammenhang zwischen einem langsameren Wachstum, dem Rückgang der offenen Stellen und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht angemessen zu würdigen. Prognosen der Notenbanken, dass die Inflation schnell zurückkomme oder die Arbeitslosigkeit niedrig bleibe, darf nicht nur dem reinen Wunschdenken der Notenbanker folgen.
Brauchen wir also neue Notenbanker? Nicht notwendigerweise. Was wir brauchen sind Notenbanker, die höhere Inflationserwartungen in ihre Prognosen einbeziehen. Die den Zusammenhang zwischen offenen Stellen und der Arbeitslosigkeit bei einem Nachfragerückgang angemessen würdigen. Was wir uns am wenigsten wünschen, sind Notenbanker, die ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
Unser Hauptszenario lautet weiterhin: Zur Bekämpfung der hohen Inflation werden die Notenbanken die Zinsen weiter anheben müssen, was zu einer deutlichen Wirtschaftsabschwächung und einer höheren Arbeitslosigkeit auch in den USA im Jahr 2023 führen wird. Darauf deuten unter anderem inverse Zinsstrukturkurven, das gefallene Konsumentensentiment und sinkende Einkaufsmanagerindizes hin. Wenn die Daten sich ändern, dann ändern wir unsere Einschätzung. Ein datengetriebenes Vorgehen macht Sinn: Für Anleger wie für Notenbanken.
Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?
Über den Autor