Ökonom Michael Heise
Was Notenbanker aus dem Inflationsdebakel lernen
Michael Heise ist Chefökonom der Anlagegesellschaft HQ Trust. Foto: HQ Trust
Notenbanker konnten weder die Corona-Pandemie noch den Ukraine-Krieg vorhersehen. Die daraus resultierende Inflation unterschätzen sie jedoch lange – mit schlimmen Folgen für die Wirtschaft. Mit einer klaren und verlässlichen Stabilisierungspolitik lassen sie sich die Schäden jedoch begrenzen.
Die aktuelle Debatte zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dreht sich vor allem um eine Frage: Wie viele Zinserhöhungen noch anstehen könnten, bis der Höhepunkt in diesem Zinszyklus erreicht ist. Für die kurzfristige Entwicklung der Anleihe- und Aktienmärkte ist das eine der wichtigsten Fragen. Je nach Kurs der EZB kann es zu Erholungstendenzen oder Rückschlägen kommen.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch die langfristige Perspektive. Welche Schlüsse wird die EZB aus den Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte ziehen, in denen die Inflationsziele trotz ultraexpansiver Politik in ihrer Wahrnehmung zunächst deutlich unterschritten und dann ab 2021 in recht drastischer und unerwarteter Weise überschritten wurden? Was sind die Lehren aus dieser Entwicklung?
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Die aktuelle Debatte zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dreht sich vor allem um eine Frage: Wie viele Zinserhöhungen noch anstehen könnten, bis der Höhepunkt in diesem Zinszyklus erreicht ist. Für die kurzfristige Entwicklung der Anleihe- und Aktienmärkte ist das eine der wichtigsten Fragen. Je nach Kurs der EZB kann es zu Erholungstendenzen oder Rückschlägen kommen.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch die langfristige Perspektive. Welche Schlüsse wird die EZB aus den Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte ziehen, in denen die Inflationsziele trotz ultraexpansiver Politik in ihrer Wahrnehmung zunächst deutlich unterschritten und dann ab 2021 in recht drastischer und unerwarteter Weise überschritten wurden? Was sind die Lehren aus dieser Entwicklung?
In Zeiten niedriger Inflation änderte die EZB ihre Strategie
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Strategieüberprüfung, die die EZB im Juli 2021 abgeschlossen hat. Unter dem Eindruck der über mehrere Jahre sehr niedrigen Inflation und dem abwärts gerichteten Realzinstrend gab die EZB einige Änderungen bekannt. Vor allem setzte sie ein symmetrisches und mittelfristiges Inflationsziel von 2 Prozent fest und ersetzte so das vormals gültige Stabilitätsziel von unter, aber nahe bei 2 Prozent. Die EZB bestätigte – falls erforderlich – den Einsatz unkonventioneller Instrumente wie längerfristige Aussagen zur Zinsentwicklung, großangelegte Anleihekäufe, Langfristkredite und negative Leitzinsen.
Als Basis der geldpolitischen Entscheidungen kündigte sie einen integrierten Analyserahmen an, der das frühere Zwei-Säulen-System mit einer wirtschaftlichen und einer monetären Analysesäule ersetzt. So relativiert die EZB die Relevanz der Geldmengenaggregate für geldpolitische Entscheidungen weiter. Auch erlaubt der integrierte Analyserahmen eine stärkere Beachtung real- und finanzwirtschaftlicher Folgen der EZB-Politik. Die EZB ergänzt die Strategie durch eine stärkere Unterstützung der Klimaziele.
Die EZB schätzt die Lage falsch ein
Weder Zentralbanken noch andere Prognostiker haben eine vollständige Voraussicht über Konjunktur- und Preisentwicklungen. Plötzliche auftretende Schocks wie die Covid-Pandemie und die Energiekrise nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind nicht prognostizierbar. Sie hatten erheblichen Einfluss auf die Inflation. Auf der einen Seite stieg die Nachfrage nach Waren in den Jahren 2020 und 2021 kräftig an, während die Produktion durch Angebotsengpässe und unterbrochene Lieferketten gedrückt wurde.
Wenige Prognostiker haben diese Effekte frühzeitig erkannt. Die Fehleinschätzungen der Zentralbank waren jedoch besonders ausgeprägt und von herausragender Bedeutung für den Kurs der Geldpolitik. So hat die EZB lange Zeit eine Änderung ihrer Politik mit Hinweis auf den vorübergehenden Charakter der Inflation und auf günstige Projektionen zur Preisstabilität abgelehnt. Noch im November 2021, als die Jahresveränderung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex bei 4,9 Prozent lag, argumentierte etwa EZB-Direktorin Isabel Schnabel: „Wir gehen davon aus, dass im November der Höhepunkt der Inflationsentwicklung erreicht ist und dass die Inflation im kommenden Jahr wieder allmählich zurückgehen wird, und zwar in Richtung unseres Inflationsziels von 2 Prozent.“
Es kam – auch wegen des Ukraine-Kriegs – völlig anders. Im Frühjahr 2022 wurde von der EZB dann stärkerer Handlungsbedarf signalisiert, aber erst im Juli 2022 – bei einer Inflationsrate von sage und schreibe 8,9 Prozent – erfolgte die erste Anhebung der Leitzinsen (beim Einlagensatz von -0,5 Prozent auf 0 Prozent). Inzwischen hat sich die Tonlage vollkommen gedreht und die EZB weist auf die Gefahren allzu hoher und sehr hartnäckiger Inflation hin.
Langfristige Zinszusagen erwiesen sich als kontraproduktiv
Ein Grund für die verspätete Reaktion der EZB auf den Inflationsschub lag in der sogenannten „Forward Guidance“, einem unkonventionellen Instrument der Notenbank, mit dem noch im Jahr 2021 für die Zeit bis 2024 Leitzinsen von Null und darunter angekündigt wurden und eine Beendigung der Anleihekäufe als Voraussetzung für eine Zinserhöhung festgelegt wurde. Diese Selbstbindung der Politik, die sie aufgrund ihrer Erwartung niedriger Inflation eingegangen war, hat sich als kontraproduktiv erwiesen, weil sie eine zeitige Reaktion auf die Inflation verhinderte.
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