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Ist Japans neue Wachstumsdynamik von Dauer?

1. Von Deflation zu Inflation
Im vergangenen Jahr veröffentlichten wir einen Artikel über das Ende der Deflation in Japan und die Bedeutung der Folgen für Wirtschaft, Politik und den Markt. Sechs Monate später sind wir immer noch optimistisch, dass dieser Trend ein wichtiger Motor für das langfristige Wirtschaftswachstum sein wird. Japan ist ein Synonym für Deflation; das „verlorene Jahrzehnt“ ab den späten 1990er-Jahren war von einer langanhaltenden Deflation geprägt, die die Verbraucherausgaben und das Wirtschaftswachstum fast 30 Jahre lang hemmte. Die Gesellschaft hatte sich an sinkende oder stabile Preise gewöhnt. Die Verbraucher hatten kein dringendes Bedürfnis, Waren zu kaufen, da die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie billiger werden würden. Diese Einstellung hielt die Nachfrage niedrig, was sich auf die Umsätze der Unternehmen auswirkte und das Wirtschaftswachstum dämpfte. Heute steigen die Preise langsam und die Verbraucher tendieren dazu, eher jetzt als später Waren und Dienstleistungen zu kaufen (Grafik 1). Ein deutlicher Unterschied zu den Zeiten, als Unternehmen die Verbraucher unfreiwillig vor steigenden Kosten schützten, aber selbst unter niedrigen Gewinnspannen litten.
Grafik 1: Die japanische Inflation bleibt trotz Anstiegs moderat

Die Dynamik des japanischen Arbeitsmarkts ändert sich auch aufgrund des Inflationsdrucks. Da die Inflation steigt, stehen die Unternehmen unter dem Druck, ihre Rentabilität zu verbessern, weil sie zu Lohnerhöhungen gezwungen sind, um ihre Mitarbeiter zu halten. Die Arbeitnehmer sind inzwischen in der Lage, durch einen Arbeitsplatzwechsel höhere Löhne und Gehälter zu erzielen. Ganz allgemein wird der Arbeitsmarkt mobiler werden, da die höhere Inflation wichtige strukturelle Engpässe, die die japanische Wirtschaft behindert haben, aufzubrechen beginnt. Die Erhöhung der Arbeitskräftemobilität war in Japan jahrzehntelang ein politisch heikles Thema, weil instabile Beschäftigungsverhältnisse hier mit einem sozialen Stigma behaftet sind. Die Arbeitnehmer gaben einer dauerhaften Beschäftigung gegenüber Lohnerhöhungen den Vorrang, und frühere gesetzgeberische Bemühungen um eine Reform des Arbeitsmarkts führten in der Bevölkerung zu schwindender Zustimmung für die Regierung. Der Anstieg der Inflation und der schwache Yen veranlassen Unternehmen und Arbeitnehmer nun eher zu praktischen Veränderungen als zu gesetzlichen Maßnahmen. Im Jahresverlauf 2023 haben viele Anleger darüber nachgedacht, ob der Kostendruck, die Straffung des Arbeitsmarkts und Änderungen in der Regierungspolitik der Deflation in Japan den Garaus machen würden – diese Annahme bewahrheitet sich nun rasch.
2. Reform der Unternehmensführung
Nachdem der Wandel in der Regierungspolitik vor mehr als zehn Jahren mit den Abenomics begann, scheinen auch die jüngeren Reformen der Tokyo Stock Exchange (TSE) die japanischen Unternehmen zu verändern. Seit 2012 haben die Regierung und die Aufsichtsbehörden verschiedene Corporate-Governance-Maßnahmen umgesetzt. Doch obwohl sie in die richtige Richtung weisen, blieben die Fortschritte innerhalb der Unternehmen begrenzt. Anfang 2023, als die TSE börsennotierte Unternehmen mit niedrigem Kurs-Buchwert-Verhältnis aufforderte, ihren Unternehmenswert zu verbessern, beobachteten wir, dass eine ganze Reihe von Unternehmen Maßnahmen ergriffen, um ihre Wertschöpfung nachhaltig zu erhöhen. Diese Maßnahmen finden in vielerlei Form statt: Aktienrückkäufe haben einen neuen Höchststand erreicht, die Dividenden steigen von Jahr zu Jahr, und die Ausgaben für Fusionen und Übernahmen nehmen zu. Neben den jüngsten Maßnahmen zur kurzfristigen Steigerung der Eigenkapitalrendite (ROE) wollen die Unternehmen langfristig wachsen und konzentrieren sich auf Investitionen für ein nachhaltiges Wachstum, darunter Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) sowie hochqualifiziertes Humankapital (Grafik 2).
Grafik 2: Japans Eigenkapitalrendite nähert sich dem Niveau der USA und Europas an

Die Auflösung von Japans umstrittenen Überkreuzbeteiligungen wird die Eigenkapitalrendite der Unternehmen weiter steigern, denn Japans archaische Aktionärsstruktur hat die Kapitaleffizienz chronisch beeinträchtigt. Mittlerweile kommen immer mehr Unternehmen den Aufforderungen der Aufsichtsbehörden nach, ihre Offenlegung zu verbessern; sie sollen die Beziehungen zwischen den einzelnen Beteiligungen aufdecken und die jeweiligen Gründe für die Verflechtungen benennen. In einem Szenario, in dem alle Unternehmen im Tokyo Price Index (TOPIX) ihre Beteiligungen veräußern und den Erlös zur Finanzierung von Aktienrückkäufen verwenden würden, könnte die durchschnittliche Eigenkapitalrendite des Index nach unserer hauseigenen Columbia Threadneedle Investment-Analyse vom Dezember 2023 bei sonst gleichen Bedingungen von 9,9 auf 12,2 Prozent steigen (Grafik 3).
Grafik 3: Die Eigenkapitalrendite des TOPIX könnte auf mehr als 12 Prozent steigen, sofern sich die Unternehmen aus ihrem Beteiligungsgeflecht lösen und ihre Beteiligungen veräußern

Wir beobachten bereits den Trend, dass Unternehmen dazu neigen, eine Reihe ihrer Beteiligungen zu verkaufen: Die durchschnittliche Anzahl der Beteiligungen pro Unternehmen im TOPIX ist laut dem Finanzdienstleister Jefferies in zehn Jahren um etwa 30 Prozent gesunken. Wenn die Erlöse aus der Veräußerung von Aktien weiterhin in Wachstumsinvestitionen fließen oder an die Aktionäre zurückgegeben werden, wird sich das positiv auf den Unternehmenswert auswirken. Es wird allgemein erwartet, dass sich das Zurückziehen aus Beteiligungen in diesem Jahr beschleunigt.
3. Verstärkte inländische Kapitalflüsse
Im Zuge der Reform der Unternehmensführung und der Inflation aktualisiert die japanische Regierung auch ihr steuerbefreites Investitionsprogramm (NISA). Zu den Änderungen gehören erweiterte Steuerklassen, die die niedrigen Investitionsquoten der japanischen Bevölkerung ankurbeln und zur Reaktivierung der Wirtschaft beitragen dürften. Die Mentalität, Bargeld auf der Bank zu halten, dürfte sich schnell ändern, insbesondere bei den jüngeren Menschen, die angesichts der gestiegenen Inflation nach Anlagemöglichkeiten suchen. Dies unterstützt eine strukturelle Verlagerung weg von Spareinlagen hin zu Investitionen. Japanische Aktien könnten durch die NISA insgesamt einen jährlichen Zufluss von etwa 14 Milliarden US-Dollar erfahren. Marktbeobachter gehen davon aus, dass rund 40 Prozent der neuen Gelder entweder direkt oder über Investmentfonds in japanische Aktien fließen könnten. Allein im vierten Quartal 2023 übertrafen die Privatkundenkäufe von Investmentfonds mit japanischen Aktienmandaten die ausländisch ausgerichteten Produkte um 38 Prozent, wie Bloomberg berechnet hat. Wenn japanische institutionelle Anleger, wie Lebensversicherer und Pensionsfonds, diesem Beispiel folgen und von Yen-Anleihen in japanische Aktien umschichten, würden sich die positiven Auswirkungen auf den japanischen Aktienmarkt noch verstärken. Hinzu kommt: Mit den inländischen nehmen gleichzeitig die ausländischen Kapitalströme zu.
Japan wird, anders als China, nicht als potenzielle Bedrohung für die USA und ihre Verbündeten angesehen, verfolgt eine pazifistische Außenpolitik und baut starke wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bindungen zu anderen regionalen Mächten auf. Daraus ergibt sich ein stabiles sozio-politisches Umfeld, während chancenreiche Technologiepartnerschaften mit Taiwan und das Streben der Investoren weg von China die japanische Volkswirtschaft weiterhin zu einem attraktiven Anlageziel für ausländische Investoren machen.
Japan befindet sich in einem Jahrzehnt des Wandels und bietet aktiven Anlegern zunehmend attraktive langfristige Anlagemöglichkeiten. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt zeichnet sich durch eine Kombination aus technologischem Können, leistungsfähiger Infrastruktur und wirtschaftlicher Stabilität aus. Faktoren wie eine vorausschauende Regierungspolitik, ein positiver Zyklus von Lohnwachstum und Inflation sowie steigende Vermögensströme zur Unterstützung von Wachstum und Investitionen stimulieren die wirtschaftliche Dynamik – für Japans Investitionslandschaft in den kommenden zehn Jahren stimmt uns das optimistisch.