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Finanzexperte Jan Viebig
EZB sieht die Inflation noch nicht als besiegt an

Jan Viebig, Oddo BHF Foto: Oddo BHF / Canva
Die jüngste Zinsentscheidung vom 14. September 2023 war keine große Überraschung, auch wenn es im Vorfeld noch einmal spannend wurde. Wie die euroländischen Zentralbanker nun weiter vorgehen werden.
Die Meinungen der Marktbeobachter waren vor der EZB-Zinsentscheidung gespalten wie selten. 20 von 39 befragten Volkswirten hatten laut einer Bloomberg-Umfrage erwartet, dass der EZB-Rat eine Zinspause einlegen würde. Es kam anders. Zum zehnten Mal seit Juli 2022 hat die EZB die Zinsen angehoben. Der Satz für ihre drei Leitzinsen steigt um jeweils 0,25 Prozentpunkte.
Der Hauptrefinanzierungssatz stieg von 4,25 auf 4,50 Prozent. Dieser Zinsschritt liegt ganz in der Logik der europäischen Geldpolitik. Im August 2023 betrug die Inflation im Euroraum nach einer ersten Schätzung von Eurostat 5,3 Prozent und war damit unverändert gegenüber dem Juli 2023. Im Vorjahresvergleich neutralisieren die Energiepreisrückgänge derzeit den Effekt des nach wie vor starken Preisanstiegs der Lebensmittel. Entsprechend lag die Kernrate im August ebenfalls bei 5,3 Prozent und damit nur leicht unter dem Juli-Wert von 5,5 Prozent. Das ist eine Höhe, die die EZB-Ratsmitglieder in ihren Überlegungen nicht ignorieren konnten.
Energiepreise treiben wieder die Teuerung
In der Zwischenzeit hat sich das Bild innerhalb weniger Wochen in wichtigen Bestandteilen verändert. Die Energiepreise, vor allem die für Rohöl, halten die Inflationsrate wieder hoch. In den vergangenen Wochen haben die Preise sichtlich angezogen, wie die Autofahrer derzeit täglich an den Zapfsäulen feststellen.
Ende Juli 2023 lag die Notierung für Rohöl der Nordsee-Sorte Brent bei rund 72 Dollar je Fass (159 Liter). Aktuell beträgt sie rund 92 Dollar. Das ist ein Anstieg von knapp 28 Prozent in weniger als zwei Monaten. Hauptauslöser für diesen raschen Preisanstieg sind erwartete Produktionskürzungen seitens der Opec+, einem informellen Club, dem neben den 13 Opec-Mitgliedsstaaten Russland, Kasachstan und Aserbeidschan angehören.
Für das Gesamtjahr 2023 rechnet die EZB mit einer Inflation von 5,6 Prozent und für das kommende Jahr 2024 einen Rückgang auf 3,2 Prozent. Erst für das Jahr 2025 erwarten die Währungshüter, dass die Teuerung wieder in den Zielkorridor mit einer Jahresrate von 2,1 Prozent einschwenkt.
Richtig ist, dass sich Zinserhöhungen nur mit einer Verzögerung von mehreren Monaten in den Inflationszahlen niederschlagen (über den genauen Zeitraum gibt es viele akademische Untersuchungen).
Dieser Prozess schreitet nach Einschätzung der EZB auch gut voran. „Die Finanzierungsbedingungen haben sich weiter verschärft und dämpfen zunehmend die Nachfrage, was ein wichtiger Faktor ist, um die Inflation wieder auf den Zielwert zu bringen“, heißt es in der Mitteilung der EZB.
Geldpolitik – und insofern war die Debatte um eine Zinserhöhung durchaus berechtigt – ist stets eine Frage der Abwägung. Das vorrangige Ziel der Zentralbanken ist die Bekämpfung der Inflation. Doch eine verantwortungsbewusste Geldpolitik achtet auch auf die Auswirkungen der Zinsentscheidungen auf die Konjunktur, den Arbeitsmarkt oder die öffentlichen Haushalte der unterschiedlichen Länder im Euroraum. Nun haben die Ratsmitglieder in ihrem Statement auch angedeutet, dass auf die zehnte Erhöhung wohl vorerst keine elfte folgen wird. Die Leitzinsen hätten nun ein Niveau erreicht, „das bei Beibehaltung über einen ausreichend langen Zeitraum einen wesentlichen Beitrag zur rechtzeitigen Rückkehr der Inflation zum Zielwert leisten wird“.
Konjunktur weiter auf dem Rückzug
Was die Konjunktur betrifft, so sind die Wachstumsraten im Euroraum in den vergangenen Quartalen gesunken. Doch – und das ist ungewöhnlich – hat sich diese Wachstumsschwäche bisher nicht nennenswert auf dem Arbeitsmarkt niedergeschlagen. Obwohl die Wirtschaftsleistung im Euroraum, gemessen am BIP, im zweiten Quartal 2023 saisonbereinigt nur um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal gestiegen ist, ist die Zahl der Erwerbstätigen im gleichen Zeitraum um 0,2 Prozent in die Höhe gegangen.
Aus dieser Wachstumsschwäche haben manche Beobachter abgeleitet, dass die EZB von ihrem Inflationsziel – die Teuerungsrate mittelfristig bei 2 Prozent zu verankern – abrücken würde und nun durch eine Zinspause die Konjunktur stützen wollte. Das hätten wir aus zwei Gründen für falsch gehalten: Erstens beabsichtigt eine Zentralbank ja gerade eine Verlangsamung der Konjunktur, wenn sie zur Bekämpfung der Inflation die Leitzinsen anhebt.
Zweitens ist vor allem die Kerninflation im Euroraum bei weitem zu hoch, um Entspannung im Kampf gegen die Teuerung signalisieren zu können. Die Kerninflation, bei der die Preisentwicklung für Energie und Lebensmittel ausgeklammert wird, lag im August 2023 wie die allgemeine Inflationsrate bei 5,3 Prozent. Über die letzten Monate haben wir zwar eine rückläufige Preisdynamik in kritischen Warengruppen wie Dienstleistungen und verarbeiteten Lebensmitteln gesehen, doch sind die monatlichen Preisanstiege bis zuletzt zu hoch, um sich zurücklehnen zu können. Eine Zinspause wäre deshalb nach unserer Einschätzung das falsche Signal gewesen.
Noch lange Zeit hohe Inflationsraten
Auf welcher Seite die EZB steht, hat sie immer wieder klar gemacht. „Die Inflation geht weiter zurück, wird aber voraussichtlich noch zu lange zu hoch bleiben“, heißt es beispielsweise im jüngsten wirtschaftlichen Bulletin der Notenbank. „Der EZB-Rat ist entschlossen sicherzustellen, dass die Inflation zeitnah wieder ihr mittelfristiges Ziel von 2 Prozent erreicht.“ Kurz vor ihrer Zinsentscheidung hatte die EZB Medienvertreter aus ganz Europa zu einem zweitägigen Seminar nach Frankfurt eingeladen. Offensichtlich ist der Zentralbank daran gelegen, in dieser kritischen Phase der Inflationsbekämpfung ihre geldpolitischen Überzeugungen weiter in die Öffentlichkeit zu tragen.