Anlageexperten Gerd Kommer und Maximilian Bartosch Können Investoren Kapitalverzehr vermeiden?

Kapitalverzehr vermeiden: Oft äußern dieses Ziel Privathaushalte, die auf den Ruhestand zusteuern oder bereits im Ruhestand sind und Entnahmen aus ihrem Wertpapierdepot vornehmen, beispielsweise um damit eine Rentenlücke zu schließen. Die Anlagestrategie soll dann so gestaltet sein, dass es bei einer gegebenen Entnahmehöhe pro Monat oder pro Jahr im Prinzip nie dazu kommt, dass das Kapital unter den Startbetrag sinkt.
In diesem Beitrag werden wir zeigen, warum und in welcher Weise das Ziel Kapitalverzehr zu vermeiden (nachfolgend der Kürze halber KVV) zahlreiche innere Widersprüche in sich birgt und in der Praxis hinweg nicht zuverlässig erzielbar ist – jedenfalls dann nicht, wenn man finanzökonomische Maßstäbe korrekt ansetzt. Wir werden die inneren Widersprüche von KVV anhand von Minifallstudien um das Jungrentnerehepaar Klara und Kurt ausführen. Es kommen sechs Argumente zur Sprache.
Klara und Kurt, beide 65, besitzen gemeinsam ein Wertpapierdepot im Wert von einer Million Euro. Die Eheleute haben beide soeben ihre Berufstätigkeit beendet und planen ihre Lebenshaltungskosten einschließlich Miete für ihre Dreizimmerwohnung in einem schönen Altbau in der Hamburger Innenstadt von nun an aus Renten- und Pensionseinkünften, den Einnahmen aus einem vermieteten Studioapartment sowie ihrem Wertpapierdepot zu finanzieren.
In Bezug auf das Wertpapierdepot wünscht das Ehepaar ihrem einzigen Kind, Tochter Katharina, später einmal den jetzigen Depotwert von einer Million Euro ungeschmälert zu vererben, sprich Kapitalverzehr zu vermeiden. Mit einer App im Internet haben Klara und Kurt ihre jeweiligen Restlebenserwartungen mit etwa 25 Jahren berechnet. Statistisch kann Klara davon ausgehen ungefähr 90 Jahre alt zu werden, Kurt 88 Jahre.

1.200% Rendite in 20 Jahren?
Um ihren gewohnten Lebensstandard zu halten, wollen die beiden monatlich 3.000 Euro oder jährlich 36.000 Euro aus dem Depot entnehmen. Das kommt einer Entnahmequote von 3,6 Prozent per annum gleich (= 36.000 Euro ÷ 1.000.000 Euro). Die 36.000 Euro sollen im Zeitablauf mit der Inflation steigen, so dass der gewohnte Lebensstandard des Ehepaars langfristig gewahrt bleibt.
Argument 1 – Kapitalverzehr vermeiden in der Standardform dieses Konzepts ist Selbsttäuschung
Angenommen, die durchschnittliche jährliche Inflation in den nächsten 25 Jahren beträgt 2,5 Prozent, so wie in Deutschland im Mittel seit 1970. Dann wird die eine Million Euro, die Klara und Kurt unverzehrt in 25 Jahren an Katharina weitergeben wollen, nur noch eine Kaufkraft von heute 540.000 Euro haben. Mit anderen Worten: Bei ökonomisch korrekter Betrachtung kann hier von Kapitelverzehr vermeiden keine Rede sein.