Herr Dr. Funke, wie erklären Sie Laien den Begriff „Behavioral Finance“?
Dr. Christian Funke: Die „Behavioral Finance“-Forschung beschäftigt sich mit der Erkundung verhaltenswissenschaftlicher Phänomene und deren Einfluss auf Entscheidungen am Finanzmarkt. Im Kontext der Börse zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse beispielsweise, dass Anlageentscheidungen sehr oft von Emotionen begleitet werden: Gefühle wie „Angst“ oder „Gier“ beeinflussen, wie Anleger investieren. Und dies leider nicht zum Positiven.
Warum ist der typische Anleger eben nicht der Homo oeconomicus?
Funke: Der vollständig rationale Homo oeconomicus der volkswirtschaftlichen Modelle sollte sich niemals von Emotionen leiten lassen. Nun ist es allerdings zum Beispiel sehr schwer sich in einer Crash-Situation von Emotionen frei zu machen – beispielsweise während deutlichen Kursrückschlägen wie im Corona-Crash im März 2020 oder auch im inflations- und zinsinduzierten Marktrückgang 2022.
Oft nimmt die Angst überhand und es werden Aktien zu Tiefstkursen verkauft, um sich vor drohenden weiteren Kursverlusten zu schützen. Dabei gibt es Situationen, wo gerade im Gegenteil ein antizyklisches Handeln sinnvoll sein kann und sich Chancen und Kaufgelegenheiten ergeben.
Was ist der Herdentrieb?
Funke: Herdentrieb lässt sich sehr schön am „Run“ auf die hoch bewerteten und hoch gewetteten Technologie-Wachstumswerte illustrieren – aktuell insbesondere die Titel rund um das Thema Künstliche Intelligenz: Anleger setzen in einer Art sich selbst verstärkendem Narrativ, auf die Digitalisierungsgewinner der Zukunft, welche scheinbar mühelos von einem Kurshoch zum Nächsten eilen und als „sichere Wette“ erscheinen. Anleger, die auf Diversifikation im Portfolio setzen und auch Value-Titeln einen Platz einräumen, geraten im Vergleich zum Markt ins Hintertreffen und vielfach in Erklärungsnot.
Der Inflationsschock in 2022 und der starke Zinsanstieg hatte Growth-Titel allerdings wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht.
Funke: Ja, die Kurse vieler, vorher hoch gewetteter Aktien stürzten um mehr als 50 Prozent ab. Dieses Bild hat sich in 2023 allerdings wieder gedreht und einen erneuten Anstieg einer kleinen Gruppe von Wachstumswerten ausgelöst – diese wurden in 2023 als die „Glorreichen Sieben“ (Alphabet, Apple, Amazon, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) bekannt. Im weiteren Verlauf des Jahres 2024 wird sich zeigen, was der Markt mit sich bringt – der eine oder andere dieser Titel, Tesla beispielsweise, hat seine Kursrally mit deutlichen Kursverlusten beendet.
Welche Fehler machen Anleger häufig?
Funke: Ein wichtiges Beispiel ist sicherlich der sogenannte „Home Bias“ – Anleger setzen sehr oft auf den eigenen Heimatmarkt und geben diesem ein zu hohes Gewicht. Die Bedeutung einer guten globalen Diversifikation wird dabei oft vergessen und vor allem der wichtigste und bedeutendste Kapitalmarkt der Welt, der US-Aktienmarkt, von vielen Anlegern vernachlässigt oder nur ungenügend mit wenigen, sehr beliebten Einzeltiteln wie Apple, Amazon oder Microsoft abgebildet.
Ein weiteres Beispiel für einen sehr oft zu beobachtenden Fehler ist eine zu hohe Risikoaversion in der Asset-Allokation: Anleger investieren sehr oft aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus mit eher niedrigen Aktienquoten. Um dann aber dennoch Chancen zu suchen, werden bei der Einzeltitelauswahl im Aktienbereich eher riskante Aktien gekauft. Viel sinnvoller und gewinnbringender aus Risiko-Renditegesichtspunkten wäre ein strukturierter Portfolioansatz mit einer höheren Aktienquote, dafür aber eher defensiven und „langweiligen“ Aktien in der Selektion.
Eine abschließende Frage: Warum fallen Anleger immer wieder auf Betrugsfälle wie Wirecard herein?
Funke: Wirecard ist ein gutes Beispiel für einen „Lottery Stock“ – die oben beschriebene Tendenz, die Chancen in der Einzeltitelauswahl im Aktienbereich zu suchen, führt dazu, dass sehr oft riskante Titel mit einer schönen Wachstumsgeschichte oder einer Turnaround-Situation gekauft werden. Anstatt sich auf höher kapitalisierte, defensive Titel zu konzentrieren, sollen diese „Einzelaktienwetten“ die Performance des Portfolios sicherstellen. Es lassen sich mit derartigen Aktien auch viel spannendere Geschichten rund um das eigene Portfolio und die eigene Investmentexpertise erzählen, als wenn man die mehr als 50 Positionen eines gut diversifizierten, defensiven Substanzaktienportfolios aufzählt. Dabei sollte die Kapitalanlage im besten Fall eigentlich genau das sein: Systematisch, strukturiert, langweilig – ohne großes Storytelling und besondere Wetten. Dafür sollte man besser ins Spielcasino gehen.
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