Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Finanzexperte Georg von Wallwitz
Von Stalin bis KI: Warum die Börse in langen Zyklen funktioniert
Dr. Georg von Wallwitz ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Eyb & Wallwitz. Bildquelle: Eyb & Wallwitz
Nikolai Kondratjew bezahlte seine Theorie der langen Wirtschaftszyklen mit dem Leben. Heute hilft uns seine Erkenntnis, die aktuelle KI-Hausse einzuordnen, sagt Georg von Wallwitz.
Der sowjetische Diktator Josef Stalin hat einen guten Teil seiner Regierungsarbeit über Anweisungen auf Notizzetteln erledigt. Diese haben sich selbstverständlich erhalten, denn wer hätte es riskiert, sie wegzuschmeißen? So hat sich auch seine Beschäftigung mit dem bedeutendsten Ökonomen der Sowjetzeit erhalten: Nikolai Kondratjew.
Kondratjew hatte sich im Februar 1917 als Revolutionär einen Namen gemacht und war in der Übergangsregierung Kerenski kurzzeitig Vize-Ernährungsminister. Als Lenin die Macht übernahm, war kein Platz mehr für Kondratjew in der Politik. Fortan widmete er sich in einem eigenen Forschungsinstitut seinen akademischen Studien. Dort analysierte er lange wirtschaftliche Zeitreihen vor allem der kapitalistischen Konkurrenz, also aus den USA, Großbritannien und Frankreich. Dabei fiel ihm auf, dass auf große Innovationen langanhaltende Wachstumsschübe folgen, die dann unweigerlich in längeren Phasen der Rezession münden. Insgesamt oszillierten diese Booms und Baissen um einen langfristigen Wachstumstrend.
Gegen die marxistische Überzeugung
Diese Einsicht kam bei Stalin, der seit 1927 die Alleinherrschaft in der Sowjetunion ausübte, nicht gut an. Denn mit seiner These von den langen Zyklen widersprach Kondratjew der marxistischen Überzeugung vom baldigen und endgültigen Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dessen Krisen seien als Teil einer langfristigen Entwicklung von Innovationen anzusehen und eben nicht als Vorboten des Untergangs.
Stalin hingegen hatte die Geschichtsauffassung von Marx übernommen und duldete keinen Widerspruch. Marx dachte nicht in Zyklen, sondern in einer Geschichtsentwicklung mit Anfangs- und Endpunkt. Im Oktober 1930 schrieb Stalin dem Chef der sowjetischen Geheimpolizei OGPU eine Notiz, wonach Kondratjew „durch die Mühle gedreht werden sollte“. Kondratjew wurde prompt in ein Gefängnis nordöstlich von Moskau gesteckt, wo er die folgenden Jahre meistens in Einzelhaft verbrachte. Später schrieb Stalin an Molotov: „Kondratjew … und einige andere Schurken müssen sicherlich exekutiert werden.“ So wurde dieser nach Verbüßung seiner achtjährigen Gefängnisstrafe von einem Militärtribunal am 17. September 1938 zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet.
Zyklen vs. Krisen
Mit seiner Krisentheorie unterscheidet sich Marx von den meisten professionellen Ökonomen, die oft einen guten Teil ihrer Zeit mit der Analyse und der Vorhersage von Zyklen verbringen. Dabei handelt es sich um den undankbarsten Teil des Ökonomen- Handwerks, denn die Vorhersage in diesen mittleren Zeiträumen ist notorisch schwierig. Ökonomen sollen ständig Auskunft darüber geben, wann die nächste Rezession oder der nächste Aufschwung ins Haus steht und wann der Zyklus sich entscheidend wendet. Dabei ist ihre Trefferquote eher gering, denn der Wirtschaftszyklus ist schwer zu berechnen: zu viele äußere Schocks, zu launisch das Konsumverhalten, zu unabsehbar die Entwicklung einer Schlüsselindustrie.
„We have two kinds of forecasters“, merkte einst John Kenneth Galbraith an, „those who don’t know – and those who don’t know they don’t know.“
Da wir an der Börse tagein, tagaus mit dieser harten Realität konfrontiert sind, finden sich dort kaum Marxisten (auch wenn manche Spekulanten zur Kapitalvernichtung neigen). Haussen und Baissen sind aber, da müssen wir Marx recht geben, unordentliche Dinger, denn sie haben viel mit Risikoappetit und Stimmung und oft wenig mit den ökonomischen Theorien und Zyklen zu tun, die selbst wiederum kaum mit den Gewinnzyklen der Unternehmen korreliert sind.
Die Unmöglichkeit der Vorhersage
Es mag schwer sein festzustellen, wo wir im Börsenzyklus stehen. Aber es ist nicht unmöglich, die Treiber hinter den größeren Bewegungen an der Börse anzugeben und ob sie wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher sind. Teure Börsen tendieren dazu, irgendwann wieder billiger zu werden, und umgekehrt. Wenn die Zeitungen gute (oder schlechte) Nachrichten über die Börse prominent platzieren, kann man davon ausgehen, dass genau diese Nachrichten in den Kursen enthalten sind und vielmehr ein Wendepunkt bevorsteht.
Gerade wenn die Unternehmensgewinne überraschend steigen, wenn die Kreditvergabe locker ist, wenn die Mehrheit davon ausgeht, dass es nur besser werden kann, wenn Fomo (Fear of missing out) und Tina (There is no alternative) über die Gemüter herrschen, wenn jede Marktschwäche bedenkenlos gekauft wird, dann ist es Zeit für Vorsicht.
Wenn es der Wirtschaft dagegen schlecht geht und die Unternehmensgewinne unter Druck sind, wenn Risikoappetit als Dummheit gilt, wenn die Refinanzierung von Krediten stockt, wenn die Crash-Propheten ihre Bücher endlich wieder gut verkaufen, wenn das Misstrauen weit verbreitet ist und die (Bild-)Zeitungen von Krise schreiben, dann sollten Investoren nach Kaufkursen Ausschau halten.
Wann es so weit ist und wie weit und wie schnell die Bewegung dann geht und wann sie ihren Wendepunkt erreicht, ist bedauerlicherweise unmöglich vorherzusagen. Dafür sind die Zyklen zu stochastisch.
