Volkswirt Henning Vöpel
Regulierung allein führt zu Deformation, nicht zu Transformation

Volkswirt Henning Vöpel
In den letzten Jahren wurde immer wieder von großen Umbrüchen gesprochen, die vor uns liegen würden: Klimawandel, Cyber-Kriege und Demokratiekrise. Wir taten dies ohne gravierende Beunruhigung, eher mit einer gewissen Lust an der Provokation, weil wir dachten, wir hätten noch jede Menge Zeit. Der Klimawandel würde erst ein Problem der nächsten, vielleicht übernächsten Generation sein, Cyber-Kri...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
In den letzten Jahren wurde immer wieder von großen Umbrüchen gesprochen, die vor uns liegen würden: Klimawandel, Cyber-Kriege und Demokratiekrise. Wir taten dies ohne gravierende Beunruhigung, eher mit einer gewissen Lust an der Provokation, weil wir dachten, wir hätten noch jede Menge Zeit. Der Klimawandel würde erst ein Problem der nächsten, vielleicht übernächsten Generation sein, Cyber-Kriege würde es erst dann geben, wenn Künstliche Intelligenz uns Menschen die Kontrolle entrissen hätten, und die Demokratie wäre erst in Gefahr, wenn die Wölfe, die doch in jedem Gewande Wölfe bleiben, aus ihren Schafspelzen kämen.
Die Wahrheit ist: Wir sind mittendrin. Mitten in diesen Umbrüchen, im Auge des Sturms, wo es fast gespenstisch ruhig ist, während außerhalb schon das Chaos herrscht, nicht nur sinnbildlich Bäume umknicken und Dächer abgedeckt werden, Pipelines in der Ostsee explodieren, Infrastruktur sabotiert wird und Italien von Rechtsaußen regiert wird.
Der Sturm entwickelt sich zum Orkan, die Krisen verschärfen und der Wandel beschleunigt sich. Dass die Politik von „Bremsen“ und „Deckeln“ spricht, ist die semantische Ironie in diesem Drama. Sie suggeriert Scheinsicherheit, wo längst die offene Hilflosigkeit zutage tritt. Alles muss sich ändern, aber niemand wird es merken, sagt die Politik. Entlastungspakete werden zu Mogelpackungen, unbearbeitete Genehmigungsverfahren zu Dokumenten der Mutlosigkeit.
Die Krisen werden behandelt wie Krisen: die Pandemie wie eine Pandemie, die Flut wie eine Flut, der Krieg wie ein Krieg. Die vielen Krisen aber sind mehr als eine Häufung von Krisen. Es ist der simultane Zerfall von Ordnungen: der geopolitischen Nachkriegsordnung, des fossilen Industriezeitalters und des linearen Medienzeitalters. Die alten Schablonen passen nicht mehr, kaum noch etwas funktioniert wirklich zuverlässig. Die Dinge haben sich bereits zu stark gewandelt. Die Gegenwart ist komplex, die Zukunft ungewiss. Die Politik reagiert auf die Krisen mit dem Versuch, mehr Kontrolle und Sicherheit herzustellen. Aber die Antwort auf Komplexität ist nicht mehr Kontrolle, denn Komplexität lässt sich gerade nicht kontrollieren. Und die Antwort auf Ungewissheit ist nicht mehr Sicherheit, denn in der Ungewissheit wird Sicherheit zur Scheinsicherheit.
Kann Europa zu einer neuen Ordnung beitragen? In Prag haben sich rund vierzig (!) Staats- und Regierungschefs getroffen, um eine neue politische Gemeinschaft zu bilden. Es ist richtig, dass Europa mehr politische Bindungskraft zu anderen Regionen der Welt entwickelt. In Afrika lässt sich heute kein Projekt mehr machen, ohne gleichzeitig auch mit China zu sprechen. Europa kann und muss stärker an der Gestaltung neuer Ordnungen arbeiten, aber nicht, indem Europa so weiter macht wie bisher. Europa will den Wandel herbeiregulieren. Das wird scheitern. Regulierung ist eine wichtige Voraussetzung, um umzusteuern und umzubauen. Regulierung allein aber führt zu Deformation, nicht zu Transformation. Transformation ist keine Frage der Metrik allein, schon gar nicht der Berichtspflichten, sondern vor allem eine Frage der Innovation. Und davon gibt es zu wenig. Wenn wir den Erfolg der Klimapolitik danach bemessen, wie viel CO2 wir reduziert haben, aber nicht wissen, wie nah wir an der Entwicklung klimaneutraler und klimapositiver Technologien sind, sind wir von echten gesellschaftlichen und ökonomischen Lösungen noch weit entfernt.
Der Ordnungsruf richtet sich an die deutsche und europäische Krisenpolitik, Wandel nicht in der Bewältigung von Krisen, sondern in der Gestaltung der Zukunft zu sehen. Die gegenwärtige Inflation ist Folge von Angebotsknappheit und Verteilungskonflikten, sie ist aber vor allem Ausdruck einer über Jahre verschleppten Strukturpolitik. Bremsen und Deckel werden nicht viel bringen. Die Spielräume für die Geld- und die Fiskalpolitik werden in Zukunft deutlich geringer sein als in den letzten fünfzehn Jahren. Wir brauchen einen anderen Politikansatz. Raus geht es nur nach vorn.
Über den Autor
Neue Artikel der Denker der Wirtschaft
Exklusive Analysen & Strategien gegen die Einkommensschere lesen Sie in der neuen Ausgabe von DAS INVESTMENT.
Jetzt kostenlos downloaden!