DAS INVESTMENT: Die Nachhaltigkeit scheint derzeit ein unpopuläres Thema zu sein – zumindest nach Auffassung von Vermittlerverbänden. So fordert der Votum-Verband, die Abfragepflicht zu ESG-Präferenzen für zwei Jahre auszusetzen. Was meinen Sie dazu?
Bertram Stehmann: Zunächst einmal gilt die Abfragepflicht der ESG-Präferenzen bislang nur für Versicherungsanlageprodukte. Im Kompositbereich liegt ebenfalls ein großes Potenzial, Beitragsgelder in nachhaltigeren Versicherungsprodukten wirken zu lassen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, das Thema ESG in der Beratung immer wieder aktiv anzusprechen, auch wenn es mancher vielleicht nicht mehr hören mag. Ich erlebe zunehmend, dass Menschen, in deren Umfeld es zu wetterbedingten Schäden gekommen ist, ihre Einstellung ändern. Den Kopf in den Sand stecken wird die anstehenden und zunehmenden Probleme rund um Starkwetterereignisse und deren Folgen nicht lösen. Konkrete und verbindliche politische Rahmenbedingungen zur Ausgestaltung der Abfragekriterien und Fragebögen können hier durchaus hilfreich sein.
„Es ist weniger ein Sprint, sondern mehr ein Dauerlauf“
Manche Menschen sehen die Entwicklung der Nachhaltigkeit in der Finanz- und Versicherungsbranche als Gartner Hype Cycle, bei dem wir nun im „Tal der Enttäuschung“ angekommen seien. Sehen Sie das auch so?
Stehmann: Die Entwicklung der Nachhaltigkeit in Finanz- und Versicherungsbranche ist meiner Einschätzung nach weniger als ein Sprint, sondern mehr als ein Marathon- oder eher Dauerlauf zu verstehen. Wie in vielen Branchen und Sparten gibt es Momente, da läuft der Verkauf wie von selbst, dann wiederum müssen Produkte stärker aktiv verkauft werden. Meine konsequente Ausrichtung auf nachhaltige Produkte hat sich gut bewährt. Mittelfristig wird es meiner Einschätzung nach immer mehr Produkte mit nachhaltigen Akzenten geben, langfristig kaum noch welche ohne.
Müssen Sie viel Überzeugungsarbeit leisten, um Ihre Kunden für nachhaltige Versicherungen zu begeistern?
Stehmann: Bislang habe ich in meinem Kundenbestand nur positive Rückmeldungen zum Thema erhalten. Darauf zahlt natürlich auch die Tatsache ein, dass viele auf Nachhaltigkeit angelegte Versicherungsprodukte nicht unbedingt teurer sind, als die dem Kunden bislang bekannten oder von ihm genutzten.
Bei welchen Produktgruppen kommt die Nachhaltigkeit besonders gut an?
Stehmann: Mein Erfahrungsschatz bezieht sich vor allem auf den Kompositbereich. Hier werden von Haftpflicht- über Hausrat-, Wohngebäude-, Kfz- oder Unfallversicherung mittlerweile viele leistungsstarke und vom Beitrag absolut markttaugliche Produkte verschiedener Versicherer angeboten. Über meine Netzwerkpartner erfahre ich, dass auch im Altersvorsorgebereich zunehmend Produkte mit breiter Auswahl an nachhaltigen Anlagemöglichkeiten wählbar und gefragt sind.
Vor drei Jahren erklärte Silke Stremlau, damals Hannoversche-Kassen-Vorständin, im Interview mit DAS INVESTMENT, dass die Auffassung, dass Nachhaltigkeit Rendite kostet, grundlegend falsch sei. In Wirklichkeit sei es nämlich genau umgekehrt: Aufgrund der Kosten für Umweltstrafen, Nachjustierung bei neuen regulatorischen Anforderungen und ähnlichen Problemen, die auf Nicht-ESG-konforme Firmen zukommen, seien nachhaltige Firmen deutlich im Plus. Sehen Sie das auch so?
Stehmann: Wie bereits erwähnt – die Option, weiterhin dauerhaft nicht nachhaltig handeln zu können, ergibt sich meiner Überzeugung nach überhaupt nicht mehr. Neben dem E für Ecology wollen bei ESG auch zwei weitere Buchstaben erfüllt sein mit „Social“ und „Governance“. Dies wird hinsichtlich künftiger Mitarbeitergewinnung zunehmend von Interesse sein. ‚Inwiefern wird ein Unternehmen, bei dem man sich bewirbt, seiner Verantwortung gegenüber Mitarbeitenden, Gesellschaft und Umwelt gerecht?‘ – diese Frage werden sich die Top-Talente stellen und entsprechend Arbeitgeber abstrafen, die hier nichts unternehmen.
Gilt das auch im Versicherungsbereich?
Stehmann: Ja, es kann interessant werden, wenn mehr Schadenversicherer auf Präventionsmaßnahmen seitens der Versicherten pochen und diese nachdrücklich einfordern.
Welche Maßnahmen könnten das sein?
Stehmann: Dinge wie Grundstücksgestaltung, Stichwort „Versiegelung von Flächen“ oder Wartung und Pflege von Rohrleitungen und technischen Anlagen.
Auch die Definition von Nachhaltigkeit und ESG lässt zu wünschen übrig. So hat die Allianz vergangene Woche Rüstungsaktien für nachhaltig erklärt. Was halten Sie von der Begründung, dass sich die Einstellung zum Verteidigungssektor in Europa nach dem anhaltenden Konflikt in der Ukraine und anderen geopolitischen Entwicklungen grundlegend gewandelt habe?
Stehmann: Vor einigen Jahren sind viele große Versicherer auf den Plan getreten, mit großem Aufwand zu bewerben, dass sie ihre Deckungsstöcke nachhaltiger ausrichten wollten. Es wurden Jahreszahlen genannt, unter anderem auch 2025, bis zu denen dies erledigt werden würde. Nun wird vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und den kurzfristig erzielbaren hohen Renditen bei Investition in Rüstungsunternehmen scheinbar dieses hehre Ziel ein Stück weit aufgegeben, was die Glaubwürdigkeit dieser damaligen Ankündigungen etwas in Zweifel zieht.
Bei einer Umfrage zu diesem Thema in einer Facebook-Vermittlergruppe erklärte ein Vermittler, wer freiwillig in Rüstung investiere, sollte sich auch nicht über einen Einberufungs-/Musterungsbescheid nicht ärgern. Was halten Sie von dieser Aussage sowie von der derzeit diskutierten Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht?
Stehmann: Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Weltlage vermute ich hinter dieser Aussage eine vielleicht lustig gemeinte Provokation. Ich habe damals Ende der 90er nach dem Abitur meinen Zivildienst absolviert. Hier habe ich viel im Umgang mit Menschen lernen können und konnte mit Einsatz meiner Zeit der Gesellschaft auch etwas zurückgeben. Gleichzeitig war dies eine wichtige Zeit, mir über meinen späteren Lebensweg Gedanken machen zu können, was mir auf in Vorbereitung auf mein späteres Studium geholfen hat. Ich halte es auch vor dem Hintergrund akuter Personalknappheit in nahezu allen Bereichen für wichtig und dringend geboten, einen vielleicht auch verpflichtenden Zeitraum nach der Schule zu definieren in Form von Dienst an der Gesellschaft, ob nun Bundeswehr, soziales Jahr oder ähnliches. Eine Entscheidung für oder gegen eine Form der Gesellschaftsdienstausübung sollte jedoch eine freiwillige bleiben.
Über den Interviewten:
Bertram Stehmann ist Versicherungsmakler bei VB Select in Hamburg. Er ist seit 23 Jahren in der Finanzdienstleistung und seit 14 Jahren als Versicherungsmakler aktiv. Seit fünf Jahren spezialisiert sich Stehmann auf Versicherungslösungen, die Nachhaltigkeitskriterien erfüllen.