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Ehemaliger IWF-Chefökonom Olivier Blanchard „Ich gehe davon aus, dass wir bald in eine Welt der niedrigeren Zinsen zurückkehren.“

Olivier Blanchard im Interview
Olivier Blanchard im Interview | Foto: Markus Kirchgessner

leitwolf: Professor Blanchard, Sie waren Ihrer Zeit voraus, als Sie schon Anfang 2021 davor gewarnt haben, dass das „Monster der Inflation“ zurückkehren könnte. Damals hat sich noch kaum jemand über die Preisentwicklung Sorgen gemacht. Wo stehen wir heute?

Olivier Blanchard: Wir müssen auf der Hut sein, von allein zieht das Monster sich nicht zurück. Aber wir verfügen über Werkzeuge, um es zu bändigen. Der massive Anstieg der Preise kam für viele Entscheidungsträger tatsächlich überraschend. Aber die Zentralbanken sind fest entschlossen, die Inflation in den Griff zu bekommen, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie wirklich alles dafür Nötige unternehmen werden. Die Situation auf beiden Seiten des Atlantiks stellt sich aber durchaus unterschiedlich dar. 

leitwolf: Ist die Lage in Europa ernster als in den USA?

Blanchard: Die Auslöser sind unterschiedlich. In Europa waren es in erster Linie externe Faktoren, die die Inflation angetrieben haben, insbesondere der plötzliche Sprung bei Energie- und Rohstoffpreisen. Dagegen ist in den USA die Nachfrage ein entscheidender Faktor für die Preissteigerungen. Das 1,9 Billionen US-Dollar schwere Konjunkturpaket, das die Regierung Biden 2021 verabschiedet hat, hat eine massive Nachfragewelle ausgelöst. Die ist wegen der erheblichen Lieferschwierigkeiten als Folge der Pandemie aber direkt vor eine Wand gelaufen. Und auch wenn die Daten für die Gesamtinflation sich rasch verbessert haben, erweist sich die Kerninflation, bei der Energie und Lebensmittel ausgeklammert sind, als zäh. Trotz dieser Unterschiede gilt: Sowohl die Fed als auch die EZB hätten schneller handeln können.

leitwolf: Hat das Zögern die Zentralbanken Glaubwürdigkeit gekostet? 

Blanchard: Ein Stück weit schon. Und wir werden die Folgen noch eine ganze Weile zu spüren bekommen. Um die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, könnten die Zentralbanken versucht sein, mehr zu tun als streng genommen nötig, um so deutlich zu machen, dass sie die Sache kompromisslos angehen. Wir sehen ja widersprüchliche Signale: Die Inflation schwächt sich ab, zumindest die Gesamtinflation. Gleichzeitig bleibt die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Stand, ein Zeichen dafür, dass eine weitere geldpolitische Straffung nötig sein könnte. Geldpolitik wirkt immer erst mit Verzögerung. Wer über uneingeschränkte Glaubwürdigkeit verfügt, kann dem Markt erklären, dass er die Straffung etwas langsamer angehen lässt, dem Ziel, die Inflation zu reduzieren, aber uneingeschränkt verpflichtet bleibt. Diese Botschaft lässt sich sehr viel schwieriger verkaufen, wenn die Glaubwürdigkeit angeschlagen ist. Das kann dann dazu führen, dass die Straffung zu heftig ausfällt. In diesem Spannungsfeld von verzögerter Wirkung der Maßnahmen und der richtigen Dosis an geldpolitischer Straffung das geeignete Maß zu finden, erfordert erhebliches Geschick. Den Zentralbankern kann man dabei nur viel Glück wünschen.

leitwolf: Wir sind aber trotzdem auf dem Weg zurück zum Zielwert von zwei Prozent Inflation?

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Blanchard: Die EZB ist fest entschlossen, die zwei Prozent zu erreichen, und wenn keine weiteren externen Schocks dazwischenkommen, sollte die Inflation Schritt für Schritt zurückgehen. In den USA dürfte die Kerninflation vermutlich auf ein Niveau von drei bis vier Prozent gedrückt werden. Dann wird vermutlich eine Diskussion über die Kosten einer weiteren Senkung einsetzen, wahrscheinlich eine heftig geführte Debatte. Denn eine rasche weitere Reduzierung könnte einhergehen mit einer höheren Arbeitslosigkeit. Ich rechne nicht damit, dass die Fed ihr Inflationsziel aufgibt, eher, dass sie sich Zeit lässt auf dem Weg dorthin. 

leitwolf: Schauen wir weiter voraus. Werden uns bald wieder disinflationäre Entwicklungen wie die demografische Entwicklung beschäftigen? 

Olivier Blanchard: Auf längere Sicht haben Demografie, der Aufstieg Chinas oder Ähnliches nicht viel Einfluss auf die Preissteigerung. Es sind die Zentralbanken, die die Höhe der Inflation bestimmen, es ist ihre Entscheidung. Gibt es Druck auf die Preise nach unten, zum Beispiel durch günstigere Importe aus China, können sie die Zinsen lockern. Das hilft der Wirtschaft und bringt die Inflationsrate zurück auf zwei Prozent. Wenn diese Importe dann ausbleiben oder teurer werden, können die Zentralbanken wieder anziehen. Die Diskussion darüber, dass niedrige Importpreise die Inflation gedrückt haben, ist meiner Ansicht nach eine verzerrte Betrachtung. Es waren vielmehr die Zentralbanken, die entschieden haben, das so zuzulassen. 

leitwolf: Gehen Sie davon aus, dass wir wieder deutlich niedrigere Zinsen sehen? 

Blanchard: Ich würde erst einmal vorausschicken, dass die Realzinsen nicht übermäßig hoch sind, dafür dass wir mitten im Kampf gegen die Inflation stecken. Ja, sie sind rasch gestiegen, aber im historischen Vergleich sind sie noch relativ niedrig. Und ich sehe keinen zwingenden Grund, warum sie nicht wieder auf das Niveau aus der Zeit vor COVID zurückfallen sollten. Das Timing für mein aktuelles Buch „Fiscal Policy under Low Interest Rates“ war in diesem Zusammenhang allerdings nicht gerade ideal. Wenn alle in Sorge sind wegen steigender Zinsen und teurer Hypothekenkredite, kann das beinahe als Provokation verstanden werden (lacht). Aber ich gehe davon aus, dass wir bald in eine Welt der niedrigeren Zinsen zurückkehren.