Volkswirt Henning Vöpel
Politiker sollten die Gegenwart aus der Zukunft betrachten

Volkswirt Henning Vöpel
Die Zeitenwende war ausgerufen, noch bevor sie verstanden war. In der Analyse der Ursachen noch unscharf, politisch in den Folgen noch diffus, ist sie dennoch offenkundig: Alles scheint gleichzeitig ins Rutschen zu geraten – wie eine Lawine reißt eine Krise die nächste mit. Der gegenwärtige Zustand der Welt wäre daher mit „Krise“ wohl unzureichend beschrieben, denn es handelt sich offensichtlic...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Die Zeitenwende war ausgerufen, noch bevor sie verstanden war. In der Analyse der Ursachen noch unscharf, politisch in den Folgen noch diffus, ist sie dennoch offenkundig: Alles scheint gleichzeitig ins Rutschen zu geraten – wie eine Lawine reißt eine Krise die nächste mit. Der gegenwärtige Zustand der Welt wäre daher mit „Krise“ wohl unzureichend beschrieben, denn es handelt sich offensichtlich um weit mehr als nur vorübergehende Störungen oder Realisationen idiosynkratischer Risiken.
Adam Tooze hat hierfür den Begriff der Polykrise neu in die Debatte eingebracht. Eine Polykrise bezeichnet ein Bündel von Krisen, die aufgrund ihrer vielschichtigen Wechselwirkungen eng miteinander verflochten sind, auf tiefere strukturelle Ursachen hindeuten und einen größeren systemischen Bruch markieren. Eine Polykrise lässt sich in diesem Sinne als Ordnungskrise deuten. Ordnungen sollen einen stabilen Umgang mit der uns umgebenden, an sich komplexen und unsicheren Welt ermöglichen. Die teils aus Axiomen, teils aus Erfahrung abgeleiteten Deutungs- und Begründungszusammenhänge sind hinreichend plausibel, praktikabel und als solche institutionell verankert. Wenn Ordnungen zerfallen, werden Komplexität und Unsicherheit wieder sichtbar – so wie gerade jetzt. Ordnungskrisen bilden somit den Ausgangspunkt für neu entstehende Deutungs- und Begründungszusammenhänge. Ausverhandelte Interessensgleichgewichte zerfallen, es kommt zu Machtverschiebungen und Konflikten. Politik in der Polykrise ist daher mehr als nur eine Frage von Resilienz oder der Gestaltung von Transformationsprozessen.
Schon bei der Globalisierung, die bei allem ökonomischen Erfolg in vielen gesellschaftlichen Bereichen, wie wir heute wissen, Flurschäden angerichtet hat, ging es um mehr: nämlich um neue Ordnungen und damit letztlich um nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag, der widerstreitende Interessen neu verhandelt, aufbrechende Konflikte neu befriedet, bedrohte (intergenerative) Freiheiten wieder schützt, brüchige Gerechtigkeit wieder herstellt. Eine Polykrise bringt daher grundlegende institutionelle, diskursive und politische Veränderungen mit sich, die an den Kern und die Substanz einer Gesellschaft gehen. Wer genauer hinschaut, dem zeigt sich ein ebensolcher Zustand der Gesellschaft: aufgewühlt, erschöpft, verunsichert.
Eine Polykrise ist immer auch eine Institutionenkrise. Das lässt sich an verschiedenen Institutionen, ob das die Kirche, die Medien oder andere sind, nachvollziehen. Obwohl die Ziele vielfach die gleichen geblieben sein mögen, sind fast alle Institutionen auf der Suche nach einer neuen Rolle in einer sich stark verändernden Gesellschaft. Ordnungen institutionalisieren sich, indem sie sich durch Sprache, Modelle und Regeln so stark etablieren, dass es irgendwann nahezu unmöglich wird, die Welt durch eine andere als die etablierte Sichtweise zu betrachten. Für Entwicklungen außerhalb dieses Sichtfeldes sind wir dagegen – geradezu institutionell – blind. Die Art und Weise, wie wir beobachten, beschreiben und bewerten, hängt also maßgeblich von den Konventionen dieser Ordnungen ab. Nicht zuletzt deshalb sprach Thomas Kuhn von einem Paradigmenwechsel, wenn unsere in diesem Sinne regelhaften Beobachtungen und deren modellhaften Beschreibungen Widersprüche zwischen dem Phänomen an sich und seiner Deutung erzeugt.
Es ist empirisch gut belegt, unter anderem von dem Ökonomen Daron Acemoglu, dass in großen Umbruchphasen dem institutionellen Wandel eine entscheidende Bedeutung zukommt. In einer Polykrise müssen demnach vor allem die Institutionen handlungs- und reaktionsfähig bleiben. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass genau hierin, nämlich in der regelhaften Fortsetzung des gewohnten (und bequemen) Status quo, ein Problem liegen könnte.
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