Volkswirt Henning Vöpel
Politiker sollten die Gegenwart aus der Zukunft betrachten
Henning Vöpel ist Direktor des Centrums für Europäische Politik. Foto: Centrum für Europäische Politik
Auch wenn die Rezession ausbleibt und der Teuerungsdruck sinkt, haben Politiker alle Hände voll zu tun. Sie müssen den Klimawandel bekämpfen, die Energieversorgung sichern und Investitionen in Infrastruktur, Sicherheit und Digitalisierung auf den Weg bringen. Was es dabei zu beachten gibt, erklärt Henning Vöpel vom Centrum für Europäische Politik.
Eine Polykrise erfordert den plötzlichen Umgang mit völlig neuen, unbekannten Umständen. Das Charakteristische und zugleich Herausfordernde ist dabei, dass es für diese neuen Umstände (noch) kein institutionelles Arrangement und (noch) keine politischen Erfahrungen gibt. Der Umgang mit unvollständigem Wissen wird daher zu einer entscheidenden Frage in der Polykrise, die in diesem Sinne eine epistemische Krise ist. Gesellschaften, zumal freie, sind komplexe Systeme vielfältiger sozialer Interaktion. In Demokratien ist der Diskurs einer, wie Jürgen Habermas es nennt, „inklusiven Öffentlichkeit“ die wichtigste Methode, um zu Erkenntnis und Legitimation zu gelangen. Ausgerechnet jetzt,...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Eine Polykrise erfordert den plötzlichen Umgang mit völlig neuen, unbekannten Umständen. Das Charakteristische und zugleich Herausfordernde ist dabei, dass es für diese neuen Umstände (noch) kein institutionelles Arrangement und (noch) keine politischen Erfahrungen gibt. Der Umgang mit unvollständigem Wissen wird daher zu einer entscheidenden Frage in der Polykrise, die in diesem Sinne eine epistemische Krise ist. Gesellschaften, zumal freie, sind komplexe Systeme vielfältiger sozialer Interaktion. In Demokratien ist der Diskurs einer, wie Jürgen Habermas es nennt, „inklusiven Öffentlichkeit“ die wichtigste Methode, um zu Erkenntnis und Legitimation zu gelangen. Ausgerechnet jetzt, in einer Polykrise und einem Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas), radikalisieren sich Positionen und polarisieren sich durch Lager- und Gruppendenken. Es lässt sich zeigen, dass bei mehrdeutiger und asymmetrisch verteilter Evidenz zu bestimmten Sachverhalten die Polarisierung von Positionen als rationaler Prozess beschrieben werden kann. Der politische Gegner ist also nicht unbedingt das unmündige Opfer falscher Informationen, sondern hat womöglich gute Gründe für seine Position. Es geht hier nicht um das Leugnen des Klimawandels, aber vielleicht liegt es ja doch im gesellschaftlichen Interesse, beispielsweise aus der Silvesternacht von Neukölln die richtigen differenzierten Schlüsse zu ziehen.
Und auch hier, im Diskurs einer transparenten und partizipativen, diskriminierungsfreien und in diesem Sinne inklusiven Öffentlichkeit, geht es um Sprache. Sprachliche Verwirrung kann zu ideologischer Verirrung und schließlich zu Polarisierung und Lagerbildung führen. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte um das Verhältnis zwischen Klimaschutz und Wachstum. Die einen argumentieren, weniger Wachstum, sogar Verzicht sei notwendig, um das Klima zu retten, die anderen verlangen mehr Wachstum, um sich den Kampf gegen den Klimawandel leisten zu können. Die Debatte ist so, wie sie geführt wird, nutzlos und unsinnig, weil erst die Art des Verzichts oder die Form des Wachstums darüber Auskunft gibt, ob damit eine Lösung verbunden ist. Jeder sprachlich konstruierte, kategorisch geführte Konflikt mündet notwendig in ideologische Debatten, die rational-argumentativ dann nicht mehr führbar sind. Dies wäre, gleich welcher Position man angehört, schlecht für die Demokratie.
Polykrise als politische Krise: Wandel, Stabilität, Pragmatismus
Eine Polykrise ist schließlich immer auch eine politische Krise. Die unverständliche Gegenwart erzeugt Widersprüche, die ungewisse Zukunft Widerstände. Beides sind politisch relevante Faktoren, denn sie erzeugen eine Situation der ökonomischen und sozialen Instabilität. Stabil ist ein Gleichgewicht dann, wenn es in der Umgebung geringer Abweichungen wieder in das Gleichgewicht zurückkehrt. Nun haben wir es in einer Polykrise einerseits mit großen Abweichungen und andererseits mit instabilen Dynamiken zu tun, so dass eine Rückkehr zum Status quo ante weder möglich noch wünschenswert ist.
Für die Politik ist das schwer erträglich. Sie mag stabile Zustände und sucht daher den kürzesten Weg aus der Krise, und der führt – irrtümlich – zurück ins Vertraute, statt nach vorn ins Unbekannte (The nearest exit may be in front of you). Denn in einer Polykrise geht es nicht um stabile Zustände, sondern um stabile Pfade der Veränderung zu einem weniger krisenanfälligen Gleichgewicht. Um Widersprüche und Widerstände in der Polykrise zu überwinden, gilt es, die Gegenwart aus einer besseren Zukunft zu betrachten, nicht die Zukunft aus einer blockierten Gegenwart. Das erfordert eine Perspektive für die Zukunft und Pragmatismus für die Gegenwart. Nicht aber Idealismus und Ideologie. Mit einiger Sorge ist zu beobachten, dass Aktivismus, der gesellschaftlich wichtig und notwendig, aber zumeist monothematisch und insoweit politisch ungeeignet ist, immer stärker in die Parlamente und Ministerien Einzug hält.
Die Zukunft ist emergent: Plädoyer für einen mutigen Pragmatismus
Welchen Weg werden wir rückblickend in der Polykrise gegangen sein? Einer, der möglich war. Einer, der möglich wurde. Die Zukunft ist emergent. Dieser simple Umstand verpflichtet zu verantwortungsvollem Handeln. Und zu mutigem Pragmatismus. Ohne Mut eröffnen sich keine neuen Wege, ohne Pragmatismus kann man sie nicht gehen. Dies ist ein Plädoyer für die konstruktive Auseinandersetzung und gegen ideologische Grabenkämpfe, für rationale Argumente und gegen idealistische Narrative. Es gibt nichts Gutes – außer man tut es. Und nicht zuletzt: In einer Polykrise, in der vieles zerfällt und Neues entsteht, müssen das Menschliche und das Verbindende gestärkt werden. Was immer wir als Gesellschaft zu verhandeln haben werden, und es wird vieles sein, wir sollten achtsam, respektvoll, emphatisch miteinander umgehen.
Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?
Über den Autor