Rechtsprofessor Schwintowski im Interview „Diese Vergleiche sind unwirksam“
Michaelis: Auch dann, wenn sie das gar nicht den Versicherungsnehmern, sondern nur den Maklern, die mit der Versicherungskammer zusammenarbeiten, mitgeteilt hat?
Schwintowski: Ja, nach meiner Meinung bindet sie sich auch in einem solchen Fall. Denn der Makler ist Sachwalter der bei der Kammer versicherten Bestandskunden. Für diese Bestandskunden hat die Kammer die Vertriebsinformation herausgegeben. Also ist sie daran auch nunmehr gebunden.
Michaelis: Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Was macht denn ein Kunde, der sich auf einen Vergleich auf der Grundlage der „Bayrischen Lösung“ eingelassen hat. An ihn hat die Kammer 10 Prozent oder vielleicht auch 15 Prozent der vereinbarten Leistung bezahlt. Ein Vergleich führt doch typischerweise dazu, dass die Ungewissheit der Parteien über die Frage, ob Versicherungsschutz besteht und in welchem Umfang besteht, durch gegenseitiges Nachgeben beseitigt wird. Sehen Sie das anders?
Schwintowski: Nein, das sehe ich nicht anders, aber in Paragraf 779 Abs. 1 BGB, den Sie gerade zitiert haben, gibt es einen wichtigen weiterführenden Hinweis. Dort heißt es nämlich, dass ein Vergleich unwirksam ist, wenn der nach dem Inhalt des Vertrags als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entsprach und der Streit oder der Ungewissheit bei Kenntnis der Sachlage gar nicht entstanden sein würde.
Michaelis: Wollen Sie das einem Nicht-Juristen noch einmal etwas erklären?
Schwintowski: Gern. Bei den Bestandskunden der Versicherungskammer gab es gar keine Ungewissheit über den Umfang der Leistung der Kammer. Diese Ungewissheit hatte die Kammer nämlich durch die Vertriebsinformation vom 4. März 2020 selbst zu Gunsten der Versicherten beseitigt. Sie hatte klargestellt, dass behördlich angeordnete Betriebsschließungen auf Grund des neuartigen Coronavirus in der gewerblichen Betriebsschließungsversicherung mitversichert sind. Es gab also keine Unsicherheit über die Frage, ob und in welcher Höhe Versicherungsschutz besteht. Hätte die Kammer auf diesen Sachverhalt von Anfang an hingewiesen, so hätte bei diesen keinerlei Ungewissheit über das Ob und das Wie des Versicherungsschutzes entstehen können, denn die Kunden hätten von Anfang an gewusst, dass sie Versicherungsschutz in vollem Umfang haben. Die Versicherungskammer hätte nur noch leisten müssen.
Michaelis: Sie wollen sagen, die Vergleiche gibt es gar nicht?
Schwintowski: Doch die Vergleiche hat es schon gegeben, aber sie sind eben unwirksam. Das heißt, rechtlich gesehen, kann sich die Versicherungskammer gegenüber den Bestandskunden auf diesen Vergleich nicht berufen.
Michaelis: Das heißt, die Bestandskunden, die einen Vergleich unterschrieben haben, können nun die Differenz zu ihrer 100-prozentigen Versicherungsleistung noch einfordern?
Schwintowski: Ganz genau, das ist die Rechtsfolge.
Michaelis: Müssen die Bestandskunden den Vergleich möglicherweise anfechten, weil sie über ihre wahren Rechte womöglich getäuscht worden sind?
Schwintowski: Nein, das müssen sie nicht, denn das Gesetz sagt ausdrücklich, dass der Vergleich immer dann bereits unwirksam ist, wenn es die zugrunde gelegte Ungewissheit überhaupt nicht gab. Und genau so war es in den hier vorliegenden Fällen.
Michaelis: Würden Sie den Kunden empfehlen, trotzdem wegen der „Bayrischen Lösung“ vielleicht auch die Anfechtung wegen Täuschung zu erklären?
Schwintowski: Das würde ich wegen der eindeutigen Erklärung der Versicherungskammer vom 4. März 2020 und der Tatsache, dass es überhaupt keine Unsicherheit über die Höhe der Entschädigung geben konnte, für überflüssig halten. Aber hilfsweise kann man an eine solche Anfechtung denken. Immerhin hätte die Versicherungskammer gegenüber den Bestandskunden darauf hinweisen müssen, dass die „Bayrische Lösung“ für sie – glücklicherweise – nicht in Betracht kommt, weil die Versicherungskammer in vollem Umfang Versicherungsleistung schuldet, und zwar sowohl nach ihren AVB als auch nach der Vertriebsinformation vom 4. März 2020.
Michaelis: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Über die Gesprächspartner:
Hans-Peter Schwintowski ist Rechtswissenschaftler und Spezialist für Versicherungsrecht. Er bekleidet einen Lehrstuhl an der Humboldt Universität Berlin. Schwintowski unterstützt außerdem die Rechtsanwaltskanzlei Michaelis in beratender Funktion („of counsel“).
Stephan Michaelis ist Gründer und Chef der Hamburger Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte. Michaelis ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht.
