Volkswirt Ulrich Kater
In Deutschland dürfte die Schuldenbremse fallen

Volkswirt Ulrich Kater
Selten haben sich innerhalb eines Jahresverlaufs die Erwartungen so umgedreht, wie es im Jahr 2022 bislang geschah. Aus einem kräftigen Erholungs-Wachstum nach der Corona-Phase ist für die meisten großen Volkswirtschaften eine Rezession geworden. Eine als „vorübergehend“ eingestufte Erhöhung von Inflationsraten hat sich als mächtigster Inflationsprozess seit 50 Jahren erwiesen. Und einem allenf...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Selten haben sich innerhalb eines Jahresverlaufs die Erwartungen so umgedreht, wie es im Jahr 2022 bislang geschah. Aus einem kräftigen Erholungs-Wachstum nach der Corona-Phase ist für die meisten großen Volkswirtschaften eine Rezession geworden. Eine als „vorübergehend“ eingestufte Erhöhung von Inflationsraten hat sich als mächtigster Inflationsprozess seit 50 Jahren erwiesen. Und einem allenfalls moderaten Zinsanstieg ist das schärfste geldpolitische Wendemanöver der vergangenen Jahrzehnte geworden. Die Ursachen für diese Schockeffekte sind der Doppelschlag aus hausgemachter Inflation (fiskalische Überstimulierung der Volkswirtschaften während der Corona-Lockdowns) und eines Wirtschaftskriegs nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Die konjunkturellen Erwartungen für den Winter sind mittlerweile ausreichend negativ und damit eingepreist. Aber auch die Erholungspotenziale Richtung 2024 erscheinen nicht übermäßig groß.
Aufsehen erregten in den vergangenen Wochen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der neuen britischen Regierung unter Premierministerin Liz Truss. Diese waren von einer traditionellen Angebotsphilosophie durchdrungen, nach der wachstumsorientierte Reformen zusammen mit einem Impuls durch Steuersenkungen das Wachstum anfachen und sich damit die Kreditaufnahme am Ende „selber finanziert“. Das funktionierte schon bei Ronald Reagan nicht (was allerdings überhaupt nicht gegen Verbesserungen der Angebotsbedingungen spricht, sowohl im Vereinigten Königreich als auch anderswo). Aktuell kam hinzu, dass die geplanten Steuersenkungen im Rahmen des britischen „Growth Plans“ zusammen mit neuen Energiepreishilfen über die kommenden fünf Jahre mit einem Volumen von 10 bis 14 Prozent des BIP zwar sehr kräftig waren, die Wachstumsreform-Vorschläge jedoch sehr vage aus- und damit an den Finanzmärkten durchfielen.
Das Konzept wurde insgesamt als wenig durchdacht und unprofessionell wahrgenommen. Das führte zu einer scharfen Vertrauenskrise, in die einzig die Bank of England durch ein sofortiges Eingreifen (unbeschränkter Ankauf von Gilts, Ausblick auf höhere Zinssteigerungen) etwas Beruhigung bringen konnte. An den Finanzmärkten wurde kurzzeitig ein solches Politikkonzept des Versuchs von kreditfinanzierten Wachstumsstimulierungen als Blaupause für die europäische Wirtschaftspolitik nach der Energiekrise angesehen, weswegen die starken Kursverluste an den Anleihemärkten nicht nur auf das Vereinigte Königreich beschränkt blieben. Insbesondere jedoch wegen des desaströsen Verlaufs dieser Politikinitiative kann eine solche Konzeption wohl getrost ad acta gelegt werden.
Aber auch hierzulande bäumt sich die Fiskalpolitik gegen die Krise auf, wenngleich in einem vernünftigeren Ausmaß. Die Europäische Union dürfte ihre Fiskalziele weiter aussetzen, in Deutschland dürfte am Ende die Schuldenbremse für das kommende Jahr fallen und entsprechend die Neuemissionstätigkeit generell ansteigen. Entscheidend ist dabei, dass die EZB im Gegensatz zu den zurückliegenden Jahren diesmal dem Anleihemarkt keine Entlastung bietet, beziehungsweise über einen möglichen Abbau des Anleiheportfolios sogar für zusätzliche Belastung sorgen könnte.
Schon die ausbleibenden Nettokäufe der EZB lassen die vom Markt zu absorbierenden Nettoemissionen bei Staatsanleihen aus der Eurozone 2023 auf das höchste Niveau seit 2010 ansteigen. Auch wenn die Staaten versuchen werden, einen Teil der zusätzlichen fiskalischen Bürden über Geldmarktpapiere zu finanzieren, deuten die sich abzeichnenden steigenden Defizite auf eine gewisse Kurvenversteilung hin. Die noch vor einigen Wochen möglich erscheinende Inversion der Bundkurve zwischen zwei und zehn Jahren ist deutlich unwahrscheinlicher geworden.
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