Volkswirt Jörg Angelé
Europa steckt tief in der Rezession

Volkswirt Jörg Angelé
Einer aktuellen Schätzung zufolge ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 jeweils um 0,1 Prozent gegenüber dem Vormonat geschrumpft. Die Wirtschaft befindet sich nach gängiger Definition in einer Rezession. Das steht auch in Einklang mit der jüngsten Entwicklung wichtiger Frühindikatoren wie den Einkaufsmanagerindizes (EMI) und den Gesc...
Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
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Einer aktuellen Schätzung zufolge ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 jeweils um 0,1 Prozent gegenüber dem Vormonat geschrumpft. Die Wirtschaft befindet sich nach gängiger Definition in einer Rezession. Das steht auch in Einklang mit der jüngsten Entwicklung wichtiger Frühindikatoren wie den Einkaufsmanagerindizes (EMI) und den Geschäftsklimaumfragen.
Einige Beobachter geben zu bedenken, das Minus zu Jahresbeginn gehe nur auf Sondereffekte wie den buchhalterisch bedingten BIP-Einbruch in Irland (minus 4,6 Prozent) und den scharfen Rückgang des Staatskonsums infolge des Endes der staatlichen Corona-Maßnahmen in Deutschland zurück. Wir halten derlei Einwände allerdings nicht für gerechtfertigt. Als das irische BIP im ersten Quartal 2022 aus den gleichen buchhalterischen Gründen im Vorquartalsvergleich um 7,9 Prozent zulegte und rund die Hälfte des Anstiegs der Wirtschaftsleistung in der Eurozone um 0,7 Prozent erklärte, fand danach auch keine relativierende Debatte statt.
Mit Blick auf die staatlichen Konsumausgaben in Deutschland muss festgehalten werden, dass deren starke Ausweitung während der Pandemie sowie der daraus resultierende positive Konjunkturimpuls ebenfalls nicht in Frage gestellt wurden. Generell gibt es laufend Sondereffekte, die herausgerechnet werden könnten. Ein Beispiel dafür ist der Superbonus in Italien. Mit dieser staatlichen Maßnahme erhalten private Immobilieneigentümer eine Förderung von bis zu 110 Prozent für die energetische Sanierung ihres Hauses oder ihrer Wohnung.
Die Subvention wurde im Juli 2020 eingeführt und hat seither zu einem massiven Anstieg der Bau- und Ausrüstungsinvestitionen geführt (siehe Abbildung). Unseren Berechnungen zufolge gehen etwa 5,0 Prozentpunkte des seitdem verzeichneten BIP-Anstiegs von 23,7 Prozent auf den Superbonus zurück, was der Eurozone wiederum einen um 1,0 Prozentpunkte stärkeren Zuwachs der Wirtschaftsleistung beschert hat.
Beim größten Teil des Investitionsschubs dürfte es sich aber um Vorzieheffekte handeln, da die Förderung zeitlich begrenzt ist und sukzessive ausläuft. Wir rechnen daher früher oder später mit einem Einbruch der Investitionen in Italien, der auch das Wachstum in der Eurozone bremsen wird.
Die Konjunkturperspektiven für das gemeinsame Währungsgebiet für die kommenden Quartale sind ohnehin nicht sonderlich günstig. Die stärkste geldpolitische Straffung der vergangenen 40 Jahre wird ihre volle Wirkung erst noch entfalten. Insbesondere bei den Bauinvestitionen sehen wir deutliches Abwärtspotenzial (siehe Abbildung).
Davon abgesehen spricht das sich eintrübende globale Konjunkturumfeld für eine schwache Entwicklung der Exporte. Zugleich wird die Fiskalpolitik unter anderem wegen des sukzessiven Wegfalls von Massnahmen zur Dämpfung der negativen Effekte der Pandemie und der Energiepreisexplosion sowie wegen der steigenden Zinsbelastung der Staatshaushalte weniger expansiv.
In Summe werden diese Faktoren unserer Einschätzung nach zu einem weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistung bis Ende des Jahres führen. Im Jahresschnitt prognostizieren wir einen BIP-Rückgang um 0,1 Prozent. Lediglich die dank kräftig steigender Löhne wieder anziehenden privaten Konsumausgaben stehen einem noch ungünstigeren Ergebnis entgegen. Ein rasches Ende der Rezession in der Eurozone zeichnet sich nicht ab.
Die schwache Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe im Frühjahr in Kombination mit der jüngsten Eintrübung wichtiger Frühindikatoren stützt diese Einschätzung. Den starken Anstieg des Dienstleistungs-EMI seit vergangenem Herbst sehen wir dabei mit Skepsis, da es Anzeichen dafür gibt, dass die Aufwärtsbewegung in erster Linie durch spürbar gestiegene Preise getrieben wurde und nicht primär durch eine überbordende Nachfrage.
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