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Kommt sie oder kommt sie nicht? Warum eine Rezession das wahrscheinlichste Szenario bleibt

Von in Die Spezialisten für globale GeldanlageLesedauer: 6 Minuten
Händler an der New York Stock Exchange: Ein robuster Aktienmarkt war in der Vergangenheit durchaus nicht immer ein verlässliches Rezessionssignal. Der Markt erzielte in den sechs Monaten vor Beginn einer Rezession in 42 Prozent der Fälle eine positive Rendite.
Händler an der New York Stock Exchange: Ein robuster Aktienmarkt war in der Vergangenheit durchaus nicht immer ein verlässliches Rezessionssignal. Der Markt erzielte in den sechs Monaten vor Beginn einer Rezession in 42 Prozent der Fälle eine positive Rendite. | Foto: Imago Images / Xinhua
Jeffrey Schulze

 Seit Mitte Mai dominiert das Narrativ von einer weichen Landung, beflügelt durch einen Anstieg der US-Aktienkurse um 11 Prozent. Gleichzeitig haben einige hochkarätige Wall-Street-Strategen kapituliert und ihre Prognosen korrigiert. Sie sehen eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine weiche Landung und haben ihre Kursziele für den S&P 500 Index angehoben. Bei genauem Hinsehen mahnen die Daten allerdings – obwohl sich die Stimmung verbessert – weiterhin zur Vorsicht und zeigen, dass die Einschätzungen zu einer unmittelbar bevorstehenden Rezession in den letzten Quartalen fehl am Platze waren. Wir bei ClearBridge Investments haben den Beginn einer Rezession in der zweiten Jahreshälfte 2023 erwartet. Mittlerweile gehen wir davon aus, dass der Rezessionsbeginn sich ins erste Halbjahr 2024 verschieben könnte.

Das mittlere Kursziel für den S&P 500 Ende 2023 ist von 4.000 Punkten Mitte Mai auf 4.300 gestiegen. Dabei haben 14 der 24 von Bloomberg befragten Unternehmen ihre Ziele angehoben. Zur gleichen Zeit verbuchten US-Aktien eine Kursrally, und eine Reihe von Wirtschaftsdaten übertrafen die Konsenserwartungen. Der Bloomberg Economic Surprise Index erreichte im Juli den höchsten Stand seit der ersten Erholung nach dem Lockdown im Sommer 2020 und wechselte ins oberste Dezil seiner historischen Spanne. Von hier aus kehrt er häufig um, sobald eine Serie von wirtschaftlichen Enttäuschungen folgt (Grafik 1).

Grafik 1: Bloomberg Economic Surprise Index

Die Welle besserer Konjunkturdaten ist zweifellos positiv zu werten, aber die Geschichte zeigt, dass sich die Konjunktur häufig stark abschwächt, wenn sich rezessive Kräfte bemerkbar machen. Kurzum, eine aktuell vergleichsweise robuste Wirtschaft hat kaum Einfluss darauf, was die Zukunft bringt. Anleger, die den zuletzt starken Aktienmarkt als Entwarnungssignal hinsichtlich einer Rezession gewertet haben, sollten bedenken, dass der Markt in den sechs Monaten vor Beginn einer Rezession in 42 Prozent der Fälle eine positive Rendite erzielte und sich in den drei Monaten vor einer Rezession in 25 Prozent der Fälle positiv entwickelte.

 

Die Haupttreiber für ein Szenario einer weichen Landung sind bei genauerer Betrachtung fraglich. Daher müssen Anleger abwägen, wann eine Rezession erwartet werden „sollte“, wenn es denn soweit kommt. Anfang des Jahres hatten wir im weiteren Verlauf 2023 mit einer Rezession in der zweiten Jahreshälfte gerechnet. Letzten September wiesen wir auf eine potenzielle Einleitungsphase von mindestens einem Jahr ab dem ersten roten Gesamtsignal im ClearBridge Recession Risk Dashboard bis zur Rezession hin, ähnlich wie wir es vor dem Abschwung in den 1990ern gesehen hatten. Wir bleiben bei dieser Einschätzung und orientieren uns weiterhin an dem insgesamt tief roten Signal im ClearBridge Recession Risk Dashboard. Zuletzt hat sich das Dashboard nicht verändert.

Grafik 2: ClearBridge Recession Risk Dashboard

Auf der Pressekonferenz nach der jüngsten Sitzung des Fed-Offenmarktausschusses (FOMC) sprach der Vorsitzende Jerome Powell über die langen und variablen Verzögerungen, mit denen die Geldpolitik ihre Wirkung entfaltet. Dabei wies er insbesondere darauf hin, dass die reale (inflationsbereinigte) Fed Funds Rate inzwischen deutlich in positivem Terrain (über der Inflation) liegt. Die Geldpolitik sollte daher straff genug sein, um das Wirtschaftswachstum abzukühlen und die Inflation einzudämmen. Das ist deshalb wichtig, weil sich die meisten Anleger ausschließlich auf die Höhe der Zinsen konzentrieren. In der wissenschaftlichen Forschung und den eigenen Modellen der Fed gilt das Hauptaugenmerk dagegen der Höhe der Zinsen im Vergleich zur Inflation.

Powell bevorzugt bei der Berechnung des realen Zinssatzes eine gängige Messgröße der kurzfristigen Inflationserwartungen im Gegensatz zur tatsächlichen Inflation. Wir stimmen ihm zu. Denn Anleger und Unternehmensführungen konzentrieren sich bei Entscheidungen über die Kapitalallokation in der Regel weit mehr auf ihre Erwartungen für die Zukunft als auf Zurückliegendes. Verbraucher werden zum Beispiel sehr viel wahrscheinlicher heute ein Haus oder Auto kaufen, wenn sie davon ausgehen, dass die Preise in einem Jahr höher sein werden. Dagegen ist für sie nicht so wichtig, wie sich die Preise in jüngster Zeit entwickelt haben.

 

Dementsprechend (anhand der Marktpreisbildung für einen 1-jährigen Inflations-Swap) brachte die Federal Reserve die Zinsen erst Ende 2022 in restriktives Terrain, das heißt, über den neutralen Satz oder den Punkt, an dem die Zinsen das wirtschaftliche Wachstum weder unterstützen noch dämpfen. Das ist deshalb wichtig, weil die Geldpolitik bekanntermaßen mit Verzögerung ihre Wirkung entfaltet. Wenn die Zinssätze erst gegen Jahresende den Punkt erreichen, an dem sie die Wirtschaft voraussichtlich bremsen, müssten Anleger, die eine zeitlich verzögerte Wirkung der Geldpolitik von sechs bis 18 Monaten (die wissenschaftliche Forschung unterstützt genau diesen Zeitrahmen überwiegend) berücksichtigen, zwischen Mitte 2023 und Mitte 2024 mit einer Rezession rechnen.

Grafik 3: Wie restriktiv ist die Geldpolitik?

Historisch gesehen ist es möglicherweise im aktuellen Zinserhöhungszyklus noch zu früh, eine Rezession zu erwarten, obwohl es sich eventuell anfühlt, als sei die Fed seit einer kleinen Ewigkeit im Straffungsmodus. Die erste Zinserhöhung erfolgte Mitte März 2022 und liegt somit erst 16,5 Monate zurück. Historisch gesehen setzte eine Rezession 23 Monate nach der ersten Zinserhöhung eines anhaltenden Zinserhöhungszyklus ein. Nur bei drei der letzten zwölf anhaltenden Zinserhöhungszyklen (seit Ende der 1950er-Jahre) setzte eine Rezession an diesem frühen Punkt ein. Die Fed begann ihren aktuellen Straffungszyklus erst sehr spät; als die Inflation fast zweistellig war und die Fed Funds Rate bei 0 Prozent lag. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die rezessionären Kräfte mehr Zeit brauchen, um ihre geballte Wirkung zu entfalten.

Für ein Entwarnungssignal von Volkswirten und Strategen ist es daher möglicherweise noch zu früh, denn die verzögerte Wirkung der Geldpolitik dürfte das Wirtschaftswachstum erst in den nächsten Quartalen verlangsamen. Vor diesem Hintergrund sehen wir mit Erstaunen, dass sich das Konjunkturklima in den vergangenen Wochen just zu dem Zeitpunkt aufhellt, da sich das Zeitfenster für eine Rezession öffnen sollte.

Diese Lage bestärkt uns jedoch in unserer Einschätzung, dass die Wirtschaft im kommenden Jahr sehr wahrscheinlich in eine Rezession rutschen wird, denn die Stimmungsbarometer funktionieren in der Regel am besten als entgegengesetzte Signale: So war es etwa Anfang des Jahres der Fall, als alle „Die am meisten erwartete Rezession aller Zeiten“ imaginierten. Wenn die Mehrzahl der Anleger nun – unseres Erachtens irrtümlich – auf eine weiche Landung hofft, könnte genau das Gegenteil eintreten. Unabhängig davon, ob unsere Einschätzung sich am Schluss als richtig erweist, basiert sie auf unseren hauseigenen Evaluierungsprozessen und einer Reihe von Indikatoren, die in der Vergangenheit zuverlässig den Beginn einer Rezession signalisiert haben. Auch wenn die Marktteilnehmer in deutlich geringerem Maß als noch vor acht Monaten mit einem Wirtschaftseinbruch rechnen, sehen wir dennoch eine Rezession am Horizont.


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