Weltweite Wachstumstreiber Schwellenländer – auf Sicht der größte Treiber der globalen Wirtschaft
Schwellenländeraktien haben sich seit Jahresbeginn stark entwickelt – angetrieben von einer deutlichen Erholung des chinesischen Marktes. Wir halten es für wahrscheinlich, dass sie ihren Positivtrend in den kommenden Monaten beibehalten und ihren Renditeabstand zu den entwickelten Volkswirtschaften verringern.
Ein Grund dafür liegt in den großen Bewertungsunterschieden zwischen den beiden Ländergruppen: Ende 2023 lag die Eigenkapitalrendite (Return on Equity, ROE) in den Industrieländern, gemessen am MSCI World, bei 16,0 Prozent und damit so hoch wie nie zuvor. In den Schwellenländern betrug sie hingegen 11,3 Prozent. Der große Unterschied ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass der Technologiesektor in den aufstrebenden Volkswirtschaften eine geringere Rolle spielt. Außerdem erholen sich die dortigen Volkswirtschaften langsamer von der Pandemie, da die staatlichen Impulse geringer ausfielen.
Wir gehen davon aus, dass sich die Eigenkapitalrendite der Schwellenländer in diesem Jahr erholen wird, während sich die der Industrieländer kaum verändern dürfte. Auch auf Basis des Kurs-Buchwert-Verhältnisses sind die Schwellenländer aktuell deutlich niedriger bewertet als die Industrieländer: Der Abschlag beträgt ganze 50 Prozent. In den letzten 25 Jahren lag der Unterschied im Durchschnitt bei 30 Prozent.
Indische Aktien hoch bewertet
Ende 2023 war Indien der teuerste Schwellenmarkt. Der indische Aktienmarkt hat 2024 bisher deutlich zugelegt. Insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen scheint es Anzeichen für eine Überbewertung zu geben. Daher forderte die indische Börsenaufsicht im Februar lokale Investmentfonds auf, Maßnahmen zum besseren Schutz der Anleger zu ergreifen.
Für uns besteht kein Zweifel an der beeindruckenden Entwicklung Indiens unter Premierminister Narendra Modi. Dieser konzentriert sich seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2014 auf die mangelhafte Infrastruktur des Landes und hat die Geschäftstätigkeit erheblich erleichtert. Gleichzeitig steht das Land weiterhin vor erheblichen Herausforderungen.
Der Bildungssektor ist nach wie vor eine der größten Baustellen. Die Hälfte der Bevölkerung verlässt die Schule im Alter von 10 Jahren. Der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung beträgt weniger als 30 Prozent – eine der niedrigsten Quoten weltweit. Die Schaffung von Arbeitsplätzen muss beschleunigt werden, um den Ansprüchen einer wachsenden Bevölkerung gerecht zu werden und das Wirtschaftswachstum über das Niveau des letzten Jahrzehnts hinaus anzukurbeln.
Chinas Wirtschaft schwächelt
Im Gegensatz zu Indien schwächelt Chinas Wirtschaft seit 2020. In diesem Jahr begann das Land, die Qualität seines Wirtschaftswachstums über die Produktivität und die Binnennachfrage zu betonen und nicht mehr nur auf das Wachstumstempo zu blicken. Aus unserer Sicht ist dieser Wandel notwendig, damit das Wachstum mit nachhaltig steigenden Einkommen einhergeht.
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Allerdings hat es die Politik bisher weitgehend vernachlässigt, das Vertrauen der Investoren wiederherzustellen. Wie rigoros die Regierung seit zwei Jahren viele Bereiche der Wirtschaft reguliert, hat viele Anleger überrascht. Sie sorgen sich außerdem um die hohe Verschuldung und die schrumpfende Bevölkerung, die zu einer Deflation führen könnten. In der Konsequenz sanken die Bewertungen chinesischer Aktien Ende Januar dieses Jahres auf den niedrigsten Stand seit der Finanzkrise von 2008 und 2009.
Seit Jahresbeginn sind vor allem die Bewertungen wachstumsstarker Technologietitel und privater Unternehmen gesunken, während staatliche Unternehmen und zyklischere Sektoren besser abgeschnitten haben. Diese Tendenzen spiegeln sich vor allem darin wider, dass ausländische Investoren Qualitätsaktien verkauften und sich die Erholung des Konsums verzögert. Insgesamt sind im Jahr 2024 die Sorgen über die großen Herausforderungen Chinas in den Hintergrund getreten, da Anleger ein Engagement in einem langfristig gesehen unterbewertet scheinenden Markt anstreben.
US-Präsidentschaftswahl als Risikofaktor
Tatsächlich hat sich der MSCI China Index seit dem Tiefpunkt am 22. Januar dieses Jahres stark entwickelt, da die Regierung die Unterstützung für die Wirtschaft und den Immobiliensektor erhöht hat. Diese Rally dürfte sich aus unserer Sicht fortsetzen, zumal die chinesische Zentralbank begonnen hat, angesichts der relativ hohen inflationsbereinigten Zinsen ihre Geldpolitik zu lockern. Ein wichtiger positiver Aspekt ist, dass die Sparquote der Chinesen im Umfeld einer moderaten Erholung des Verbrauchs und des Verbrauchervertrauens gesunken ist.
Insgesamt gehen wir angesichts der US-Präsidentschaftswahlen im November von einer erhöhten Volatilität an den Finanzmärkten aus. Ein nennenswertes Risiko ist die Einführung von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen seitens der USA in Bereichen, in denen China seine Exporte erhöht hat – unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt. Längerfristig sehen wir eine stärkere Polarisierung, wobei die Handelsblöcke zunehmend von der Geopolitik geprägt werden.
Abschließend ist es wichtig zu betonen, dass die Schwellenländer die globale Konjunktur antreiben. Obwohl die Wachstumsrate Chinas abnimmt, teilen wir die Erwartungen vieler Anleger, dass das Land in den kommenden Jahren weiterhin den größten Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum leisten wird. Schließlich macht es 30 Prozent des Wirtschaftswachstums der Schwellenländer aus. Die indische Wirtschaft wächst derzeit schneller als die chinesische – diese ist jedoch etwa 4,5-mal so groß.
Über die Autorin:
Laurence Bensafi, CFA, ist Managing Director und Portfoliomanagerin sowie stellvertretende Leiterin des Emerging Markets Equity-Teams bei RBC Global Asset Management.