„Es ist der 17. Juni 2010. Wir befinden uns in den Büros von Wachtell, Lipton, Rosen & Katz in New York. Es ist ungefähr 9 Uhr morgens, und heute werden wir Herrn Martin Sullivan interviewen.“ So beginnt der Bericht der Financial Crisis Inquiry Commission (FCIC), einer von der US-Regierung im Jahr 2009 eingerichteten Untersuchungskommission mit dem Auftrag, die Ursachen der Finanzkrise von 2007 bis 2008 zu untersuchen.  

Rund zwei Jahre davor, im Sommer 2008, musste Sullivan Zahlen verkünden, die niemand für möglich gehalten hatte. Der Chef der American International Group (AIG) – eines der größten Versicherungskonzerne der Welt – erklärte, dass sein Unternehmen im zweiten Quartal 14,7 Milliarden Dollar durch Kreditderivate verloren hatte. Die Gesamtsumme der aufgelaufenen Verluste belief sich bereits auf 26,2 Milliarden Dollar. 

Der Grund: Jahre zuvor hatte Sullivan für AIG Credit Default Swaps (CDS) im großen Stil gekauft. CDS sind Finanzderivate, die das Ausfallrisiko eines Kredits oder einer Anleihe absichern. Unter Sullivans Führung gab AIG diese Derivate in großem Stil auf hypothekenbesicherte Wertpapiere aus. Als der Immobilienmarkt kollabierte, verwandelten sich diese vermeintlich sicheren Geschäfte in tickende Zeitbomben. 

Gleichzeitig hatte Sullivan eine weitere verhängnisvolle Strategie vorangetrieben: Er ließ Liquidität aus Lebensversicherungsportfolios in hochriskante Wertpapierleihegeschäfte einbinden. Das Ergebnis waren weitere Milliardenverluste – und das Ende von Sullivans Karriere als AIG-Chef. Doch auch sein Nachfolger Robert Willumstad, der wenige Wochen später das Ruder bei AIG übernahm, konnte den Konzern nicht mehr retten – zumindest nicht aus eigener Kraft. Denn nach mehreren Herabstufungen durch Ratingagenturen musste AIG zusätzliche Sicherheiten von 14,5 Milliarden Dollar bereitstellen – Geld, das schlicht nicht da war. Dem Konzern blieben nur noch Tage bis zur Insolvenz. 

Wäre AIG kleiner gewesen, dann wäre das ihr Ende. Da der damals drittgrößte Versicherer weltweit aber als „too big to fail“ galt, sein Zusammenbruch also gravierende Kettenreaktionen im weltweiten Finanzsystem ausgelöst hätte, griff die US-Notenbank Federal Reserve ein und rettete den Konzern mit einem Notkredit von 85 Milliarden US-Dollar. 

Europas Antwort 

Diese Rettungsaktion war ein Weckruf für Europa. Wenn ein einziger Versicherer das globale Finanzsystem an den Rand des Abgrunds bringen konnte, was würde dann erst bei einem systemischen Versagen in Europa passieren? Die Botschaft war klar: Die bisherigen Risikomodelle und Kontrollmechanismen hatten versagt. 

In Brüssel und Frankfurt zogen die Regulatoren eine radikale Konsequenz. Sie warfen ihre veralteten Regeln über Bord und entwickelten Solvency II – ein Regelwerk, das den Umgang mit Risiken bei Versicherern von Grund auf neu definieren sollte. Die zentrale Lehre aus dem AIG-Desaster: Versicherer müssen genug Kapital vorhalten, um ihre Risiken zu decken. Und zwar nicht nach pauschalen Formeln, sondern basierend auf ihrem tatsächlichen Risikoprofil. 

„Unter Solvency I waren wichtige Risiken, wie beispielsweise Marktpreis- oder Kreditrisiken, nicht ausreichend berücksichtigt“, erklärt Lukas Linnenbrink, Versicherungsprofessor an der Fachhochschule Dortmund. Solvency II vollzog einen Wechsel von einer bilanzorientierten hin zu einer marktwert- und risikoorientierten Sichtweise, die laut Linnenbrink die individuelle Risikosituation der Versicherer deutlich besser abbilden kann. „Die Kapitalanforderung orientiert sich in Solvency II am tatsächlichen Risikoprofil und nicht mehr an pauschalen Ansätzen“, so der Risikomanagement-Experte.  

Die Idee war nicht neu: Bereits seit 1999 diskutierte die EU über eine grundlegende Modernisierung ihrer Versicherungsaufsicht. Die bestehenden Regelwerke, die auf EU-Richtlinien aus den 1970er Jahren basierten, galten längst als überholt: zu einfach gestrickt, wenig risikoorientiert und ineffizient. Der europäische Versicherungsmarkt war fragmentiert, neue Risikomanagementmethoden fanden keinen Eingang in die Regulierung, und die Integration des Binnenmarkts kam nur schleppend voran. 

Meilensteine & Entwicklungen

Ab 1999: Diskussion um eine grundlegende Modernisierung des EU-Solvabilitätsrechts (Solvency I).
2001: Offizieller Start der Solvency-II-Initiative durch die EU-Kommission.
2009: Solvency-II-Richtlinie (2009/138/EG) verabschiedet.
2014: Omnibus-II-Direktive ändert Übergangsregelungen.
2016: Vollständiges Inkrafttreten der Solvency II in allen EU-Mitgliedstaaten.
Ab 2018: Prüfung des Standardmodells; kontinuierliche Updates zu Methoden und Parametern.
2025: Neuer Entwurf der Delegierten Verordnung zur Überarbeitung von Kapitalanforderungen, Berichts- und Offenlegungspflichten sowie Förderung langfristiger Investitionen.
30. Januar 2027: Inkrafttreten der modifizierten Solvency-II-Richtlinie

Völlig neuer Ansatz

Die Lehren aus der Finanzkrise 2008 und dem AIG-Desaster gaben den entscheidenden Anstoß. Was Sullivan und andere Versicherungsmanager vorgemacht hatten – das Eingehen extremer Risiken ohne angemessene Kapitalunterlegung –, sollte in Europa künftig unmöglich werden. Die europäischen Aufseher erkannten: Es brauchte nicht nur schärfere Regeln, sondern einen völlig neuen Ansatz. 

Im Kern stellt Solvency II eine Revolution dar: Weg von starren, pauschalen Kapitalanforderungen hin zu einer wirtschaftlichen, risikobasierten Betrachtung. Jeder Versicherer muss künftig genau kalkulieren, welche Risiken er eingeht – und entsprechend Kapital vorhalten.