DAS INVESTMENT: Herr Uhlig, Sie sind der erste ostdeutsche Vorstandsvorsitzende eines großen Versicherers. War Ihnen das bewusst, als Sie Ihren neuen Posten angetreten haben?
Torsten Uhlig: Ich kenne zwar einige Kollegen, die auch Vorstandsmitglieder mit ostdeutschen Wurzeln sind, aber in der Gesamtverantwortung als Vorsitzender bin ich aktuell offenbar tatsächlich der Einzige. Das ist aber kein Phänomen der Versicherungsbranche. Auch in DAX-Konzernen gibt es meines Wissens aktuell keinen einzigen ostdeutschen Vorstandsvorsitzenden.
Sehen Sie darin ein Problem?
Uhlig: Es ist schon erstaunlich, dass wir mehr als 35 Jahre nach dem Mauerfall immer noch diesen Exotenstatus haben und dass wir darüber reden. Es fragt niemand, wenn jemand aus Hamburg Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens in München wird. Aber wenn jemand als Sachse ein bundesweit tätiges Unternehmen mit Hauptstandorten in Dortmund und Hamburg verantworten darf, dann ist das offensichtlich etwas Außergewöhnliches.
Für das Phänomen, dass so wenig Ostdeutsche an die Spitze stehen, gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die wahrscheinlich nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch teilweise bei den Menschen liegen, die in Ostdeutschland großgeworden und sozialisiert wurden. Bei vielen Menschen aus diesen Regionen hat das DDR-System zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Eigenverantwortung und Selbständigkeit nicht im Fokus standen.
Der unternehmerische Grundgedanke ist speziell in den ostdeutschen Bundesländern im gesamtdeutschen Vergleich nicht so ausgeprägt. Die Erfahrung habe ich im Übrigen auch in meiner vertrieblichen Verantwortung gemacht, als wir ein System für Unternehmeragenturen aufgebaut haben. Stärker ins Risiko zu gehen und zu investieren, diese Haltung war weniger vorhanden.
Mit welchen Eigenschaften haben Sie es geschafft, so weit zu kommen?
Uhlig: Ich war 23 Jahre alt, als im Jahr 1989 die Mauer fiel, und die Erfahrungen aus der Zeit helfen mir im Nachgang auch in der Bewertung von bestimmten Situationen. Wir Ostdeutsche sind aus den damaligen Rahmenbedingungen sehr anpassungsfähig und mussten lernen, mit Unsicherheiten umzugehen. Nur diese Anpassungsfähigkeit hat es beispielsweise ermöglicht, dass wir uns in der Zeit vor der Wende ein Lebensumfeld gestalten konnten, das zu einem selbst gepasst hat.
Über die Zeit – ich habe 1991 bei den Signal Versicherungen begonnen und bin jetzt 34 Jahre später in der Verantwortung als Vorstandsvorsitzender – habe ich festgestellt, dass alle, die etwas erreicht haben, unabhängig von der Herkunft, eine sehr hohe Leistungsbereitschaft zeigen mussten.
Dann gibt es zwei wichtige Eigenschaften bei mir: Ich bin unglaublich neugierig. Und das Zweite ist mein Ehrgeiz. Als Kind konnte ich bei Spielen ganz schlecht verlieren. Das sind energetische Triebfedern. Daraus resultiert bei mir immer wieder die Frage: Gibt es noch Möglichkeiten, Themen besser zu machen?
Ein ganz entscheidender Punkt ist auch mein familiäres Umfeld, dass die beruflich bedingten Veränderungen mitgetragen hat. Wir sind allein von 1991 bis 2005 fünfmal umgezogen, teilwiese mit schulpflichtigen Kindern in verschiedene Bundesländer.
Geht den Menschen das Bewusstsein dafür ab, dass Reformen im Sozialstaat eigentlich mehr Eigenverantwortung abverlangen würde?
Uhlig: Ja, da gebe ich Ihnen recht. Es würde uns guttun, gemeinsam auf die Wurzeln der Sozialsysteme zurückzuschauen. Was war der Kerngedanke der sozialen Sicherungssysteme? Diejenigen, die aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, wurden für eine Grundversorgung in ein staatlich organisiertes Kollektiv geholt. So sind Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialversicherungsgesetze entstanden.
Die nachhaltige Problemlösung liegt in der Stärkung der Eigenverantwortung. Und das findet nicht in der Komfortzone statt, denn das betrifft jeden Einzelnen. Wenn wir uns die Ausgabenseite und die Einnahmenseite der Krankenversicherung anschauen – überall muss etwas getan werden, damit das Gesamtsystem überhaupt langfristig funktioniert.
Sie sind mit 59 Jahren relativ spät Vorstandsvorsitzender geworden. Ist das nicht ein Manko?
Uhlig: Unser Vorstandsteam ist divers und das ist ein ganz hohes Gut. Wir neigen ja im Moment dazu, in der Wirtschaft Diversität in erster Linie am Geschlecht festzumachen. In unserem Vorstandsteam ist das anders.
Es ist hilfreich Personen im Team zu haben, die Ende 30, Anfang 40 sind und aus dieser Perspektive auf das Unternehmen schauen. Und gleichzeitig Kollegen, die wie ich seit über 30 Jahren in der Branche sind und ihre Erfahrungen einbringen. Die Vielfalt bei Geschlecht, Alter und Herkunft in unserem Vorstandsteam führt zu intensiveren und wertvolleren Diskussionen.

