

Daniel Morris: Als ich Ende 2024 mit Kunden sprach, schienen fast alle von ihnen in US-Aktien übergewichtet zu sein und hofften auf eine Fortsetzung des Trends. Es erübrigt sich zu sagen, dass das 2025 nicht ganz geklappt hat. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Nadia Grant: Seit der globalen Finanzkrise waren die USA der wichtigste Wachstumstreiber für die Weltwirtschaft. Auch nach der Corona-Pandemie ging von dort eine neue Innovationswelle aus – vor allem durch Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz. Die Finanzmärkte erkannten früh, welches Potenzial KI für die Produktivität in den kommenden Jahrzehnten bietet. Das beflügelte vor allem einige große Technologiekonzerne, die später als „Magnificent 7“ bekannt wurden. Diese Unternehmen waren fast allein dafür verantwortlich, dass Gewinne und Aktienkurse in den USA weiter stiegen.
Nach der US-Präsidentschaftswahl im November 2024 keimte zusätzlich die Hoffnung auf, dass neue wirtschaftspolitische Maßnahmen – etwa weniger Regulierung und niedrigere Steuern – die Wirtschaft weiter ankurbeln würden. In dieser Phase erreichte der „US-Exzeptionalismus“, also die Vorstellung von der besonderen wirtschaftlichen Stärke und Einzigartigkeit der Vereinigten Staaten, seinen vorläufigen Höhepunkt.
Seither sind die Anleger eines Besseren belehrt worden. Wir sind Zeugen des Niedergangs des US-Exzeptionalismus, oder?

Grant: Im bisherigen Verlauf des Jahres 2025 haben nicht mehr die USA, sondern vor allem China und Europa die weltweiten Aktienmärkte angetrieben. Die bisher unangefochtene Sonderstellung der Vereinigten Staaten gerät zunehmend ins Wanken. Ein deutliches Signal: Der US-Dollar-Index ist um rund 8 Prozent gefallen. Auch die zuvor gefeierten „Magnificent 7“ – die großen US-Technologiekonzerne – haben ihren Vorsprung eingebüßt.
Ein wichtiger Auslöser dafür war der Technologieschub aus China. Spätestens seit der Veröffentlichung des KI-Modells DeepSeek wurde deutlich, dass China den USA in der Entwicklung künstlicher Intelligenz technologisch deutlich nähergekommen ist, als viele zuvor angenommen hatten.
Gleichzeitig belastet die eigene Wirtschaftspolitik die USA zunehmend.
Grant: In der Tat, der US-Exzeptionalismus steckt in einer hausgemachten Krise. Grund dafür sind vor allem drastisch gestiegene Handelszölle: Vor dem „Liberation Day“ lagen die durchschnittlichen US-Zölle bei 2,5 Prozent, inzwischen sind sie auf über 20 Prozent geklettert. Experten gehen davon aus, dass sie sich mittelfristig bei etwa 13 Prozent einpendeln könnten – immer noch ein deutlich erhöhtes Niveau, das den internationalen Handel und damit auch das Wachstum bremst.
Angesichts der protektionistischen Handelspolitik sehen sich Kapitalanleger anderweitig um –könnte Europa auch in den kommenden Jahren profitieren?
Grant: Ja, diese Entwicklung fällt zeitlich zusammen mit einer wirtschaftlichen Aufbruchsstimmung in Europa. Vor allem zwei Initiativen gelten als Signal eines neuen Selbstbewusstseins: der deutsche Infrastrukturplan und das europäische Verteidigungsprogramm „ReArm Europe“. Beides wirkt wie ein wirtschaftlicher Katalysator und könnte die Wachstumsaussichten des Kontinents über das nächste Jahrzehnt hinweg nachhaltig verbessern.
Eine gewisse Marktvolatilität war zwar nach den US-Wahlen absehbar – etwa wegen möglicher rechtlicher Streitigkeiten um das Wahlergebnis. Doch inzwischen sorgen geopolitische Überraschungen für weitere Verunsicherung an den Märkten. Wie gehen Sie bei der Portfolioallokation damit um?
Grant: Es gibt starke Megatrends, die langfristig die Zinssätze, die Vermögenspreise und die Risikobereitschaft auf dem Markt beeinflussen; dazu gehören die Megatrends Innovation, Demografie, Umwelt und Geopolitik. In der Geopolitik hat sich die Weltordnung in Richtung einer multipolaren Welt verschoben, was zu mehr Unsicherheiten führt.
Innerhalb des geopolitischen Megatrends identifizieren wir Themen, die für ein über dem Markt liegendes Wachstum sorgen werden: Onshoring oder Reshoring, aber auch erhöhte Verteidigungsausgaben. ReArm Europe ist ein großer Katalysator. Europa hat erkannt, dass Souveränität und Autonomie die Voraussetzung dafür sind, selbstbestimmt und unabhängig handeln zu können. Die Länder halten sich endlich an ihre Verpflichtung, mindestens 2 Prozent ihres BIP für die Verteidigung auszugeben – und wollen sogar darüber hinaus gehen. Die gleiche Dynamik ist in Japan zu beobachten, wo die Verteidigungsausgaben erhöht wurden, und auch in Südkorea und Australien.
Wo sehen Sie weiteres besonderes Anlagepotenzial?
Grant: Im Zuge des Trends zum Onshoring – also der Rückverlagerung von Produktion und Schlüsselindustrien nach Europa – hat der deutsche Infrastrukturplan große Chancen für Investoren eröffnet. Er wird voraussichtlich ein bedeutender Wachstumstreiber für Europa in den kommenden zehn Jahren sein. Besonders profitieren dürfte davon der Bausektor – was angesichts der geplanten Investitionen kaum überrascht. Wir sehen hier vor allem interessante Möglichkeiten bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen, den SMID, die stark von den steigenden Bauausgaben in Deutschland profitieren dürften.
Hält der Trend?
Grant: Schon jetzt hat Europa die USA im bisherigen Jahresverlauf deutlich hinter sich gelassen – mit rund 20 Prozent Wertzuwachs. Trotzdem halten wir eine Übergewichtung europäischer Aktien weiterhin für sinnvoll. Warum? Die Unternehmensgewinne in Europa werden durch ein solides Wirtschaftswachstum gestützt, das mit dem der USA mithalten kann. Hinzu kommen fiskalische Impulse, geldpolitische Unterstützung – und nicht zuletzt eine attraktivere Bewertung: Europäische Unternehmen werden derzeit zu deutlich günstigeren Kurs-Gewinn-Verhältnissen gehandelt als ihre US-Pendants.
Wir haben bereits darüber gesprochen, dass sich die Märkte oft ganz anders entwickeln, als man es erwartet. Und genau das führt uns zu einem der wichtigsten Grundprinzipien des Investierens zurück: Diversifikation. Wie gehen Sie heute damit um?
Grant: Diversifikation ist aus unserer Sicht entscheidend. Es geht darum, gezielt nach Chancen in unterschiedlichen Regionen, Branchen, Anlagethemen und Investmentstilen zu suchen. Ein gutes Beispiel: In der Zeit, in der es bei einigen KI-Aktien, an die wir weiterhin glauben, zu einem Ausverkauf kam, waren wir gleichzeitig in europäische Rüstungswerte investiert. Diese Titel entwickelten sich völlig unabhängig von den Tech-Aktien und haben uns geholfen, das Portfolio zu stabilisieren.
Gerade weil wir davon ausgehen, dass die Märkte auch künftig sehr volatil bleiben, ist es enorm wichtig, sich ein breites Universum an Investmentideen offen zu halten.