Märkte bewegen Aktien, Zinsen, Politik. Und Menschen. Deshalb präsentieren wir dir hier die bedeutendsten Analysen und Thesen von Top-Ökonomen - gebündelt und übersichtlich. Führende Volkswirte und Unternehmensstrategen gehen den wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen clever und zuweilen kontrovers auf den Grund.
Da diese Artikel nur für Profis gedacht sind, bitten wir Sie, sich einmalig anzumelden und einige berufliche Angaben zu machen. Geht ganz schnell und ist selbstverständlich kostenlos.
Finanzexperte Jan Viebig
Warum das Risiko einer echten Rezession in den USA gering ist
Jan Viebig ist Investmentchef der Privatbank Oddo BHF. Bildquelle: Oddo BHF
Seit einiger Zeit diskutieren Experten über die Gefahr einer Rezession in den USA. Doch Jan Viebig meint, dass man die Wachstumskraft der US-Wirtschaft nicht unterschätzen sollte.
Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 die Weltwirtschaft lahmlegte, beendete dies die mit 42 Quartalen längste Expansionsphase in der Geschichte der USA. Über mehr als zehn Jahre hatte es immer wieder Warnungen gegeben, dass die nächste Rezession bevorstünde. Doch die Wirtschaft in den USA blieb auf Wachstumskurs. Trotz einiger schwacher Quartale und auch einzelner mit negativem Wachstum (Q1 2011, Q1 2014) wuchs die US-Wirtschaft im Zeitraum zwischen Mitte 2009 und Ende 2019 um durchschnittlich 2,5 Prozent pro Jahr. Erst der Ausbruch der Corona-Pandemie – ein externer Schock - beendete die lange Expansion.
Droht nun eine Rezession?
Seit einigen Monaten diskutieren Experten und Marktteilnehmer erneut über die Gefahr einer Rezession in den USA. Einige Beobachter, darunter bekannte Adressen, haben das Rezessionsrisiko hochgestuft. Die regelmäßigen Umfragen von Bloomberg unter den Experten weisen eine mittlere Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent aus. Das Schätzmodell der New York Fed, das auf die Steilheit der Zinskurve Bezug nimmt, zeigt sogar eine Rezessionswahrscheinlichkeit von knapp 60 Prozent auf Sicht von zwölf Monaten. Und die sogenannte Sahm-Regel, die auf den Anstieg der Arbeitslosenquote abstellt, hat im Juli 2024 Rezessions-Alarm ausgelöst.
Wir glauben jedoch, dass das Risiko einer „echten“ Rezession in den USA gering ist. Echt bedeutet in diesem Fall, dass es zu einer signifikanten Kontraktion der wirtschaftlichen Aktivität im Sinne der Kriterien des National Bureau of Economic Research in den USA kommt.
Die US-Wirtschaft ist breit diversifiziert, weniger stark von internationalen Einflüssen abhängig als insbesondere die europäische Wirtschaft und besitzt eine hohe Innovationskraft. Zudem ist das Potenzialwachstum (die Wachstumsmöglichkeiten bei voller Auslastung der Produktionskapazitäten) mit 2 bis 2,5 Prozent deutlich höher als in Europa, so dass der „normale“ Abstand von der Nulllinie größer ist (siehe Abbildung 1). Die Wirtschaft der USA erscheint deshalb weniger rezessionsgefährdet als beispielsweise die europäische.
Schwachstellen in der US-Wirtschaft
In den USA läuft nicht alles rund. Eine Schwachstelle ist beispielsweise der Bausektor, wo die Entwicklung schon seit dem Frühjahr 2022 nach Süden zeigt. Die Baugenehmigungen und Hausbaubeginne, die in den letzten Monaten nochmals etwas abgerutscht sind, liegen mehr als 20 Prozent unter dem Niveau von Anfang 2022.
Abbildung 1: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts und des Produktionspotenzials in den USA
Eine zweite Schwachstelle ist das verarbeitende Gewerbe. Die Industrieproduktion hat sich über die vergangenen zwei Jahre praktisch seitwärts entwickelt, und der Auftragseingang lässt vorerst keine nachhaltige Besserung erkennen. Die Auftragskomponente aus der ISM-Umfrage zeigt für die letzten sechs Monate sogar einen Rückgang in die Kontraktionszone, auf 46,1 (neutral: 50,0) im September.
Eine weitere Schwäche in diesen Bereichen dürfte die US-Wirtschaft aber nicht in die Rezession treiben. Dazu ist die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Sektoren zu gering: Der Bausektor (ohne Immobilien-Dienstleistungen) erwirtschaftete im zweiten Quartal 2024 knapp 4 Prozent, das verarbeitende Gewerbe rund 10 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung.
Zum Vergleich: Die Finanzdienstleistungen allein kamen auf mehr als 20 Prozent. Insgesamt zeigen die meisten Indikatoren, dass die Entwicklung in den weitaus wichtigeren Dienstleistungsbereichen weiterhin robust ist. Die Einkaufsmanagerindizes für den Dienstleistungssektor, sowohl ISM Survey als auch die Umfrage von S&P Global, zeigen für September einen Stand von rund 55 (siehe Abbildung 2).
Zudem ist der Indikator für den Auftragseingang im September steil nach oben geschossen, auf 59,4. Das passt im Übrigen zur Beschäftigungsentwicklung, die im September wieder angezogen hat. Die Entwicklung im Dienstleistungsbereich zeigte über die Sommermonate etwas mehr Schwankungen, doch für eine bedeutende Abschwächung geben die verfügbaren Daten keinen Anhaltspunkt.
Abbildung 2: Einkaufsmanagerindizes für den US-Dienstleistungssektor
Dominanter Konsum
Mit einem Anteil von knapp 70 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist es nachfrageseitig vor allem der Konsum, der über das Wohl und Wehe der US-Wirtschaft entscheidet. Im zweiten Quartal war der private Verbrauch kräftig um 2,8 Prozent (gegen Vorquartal, auf Jahresrate hochgerechnet) gestiegen. Zumindest für das dritte Quartal könnte das Ergebnis – soweit dies aus den verfügbaren Zahlen zu den persönlichen Konsumausgaben ablesbar ist – ähnlich gut ausfallen. Von Kaufzurückhaltung ist bisher nicht viel zu sehen.
Perspektivisch könnte sich die Entwicklung unter Umständen verlangsamen. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass die hohen „außerordentlichen“ Ersparnisse aufgrund der üppigen Transferzahlungen während der Corona-Krise 2020/21 weitgehend verbraucht sind. Die Sparquote könnte also steigen. Dem stehen allerdings entlastende Einflüsse durch die beginnenden Zinssenkungen sowie, vor allem, die Vermögenseffekte aufgrund der hohen Kursgewinne an den Aktienmärkten in den Jahren 2023/2024 gegenüber.
Gewinnwachstum könnte überraschen
Die Aktienmärkte setzen ungeachtet der gesamtwirtschaftlichen Diskussion ihren Höhenflug fort. Der S&P 500 markierte Mitte Oktober neue Höchststände. Die Analysten haben die Erwartungen an die Gewinnentwicklung im Verlauf des dritten Quartals schrittweise zurückgenommen. Mit 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr (nach Angaben von Factset, Blended Earnings) fallen die „offiziellen“ Erwartungen an das Gewinnwachstum mittlerweile recht bescheiden aus.
Allerdings neigen die Unternehmen im Vorfeld der Berichterstattung gerne zum „Tiefstapeln“. Die jüngsten Berichte der US-Banken (vom 11. Oktober) beispielsweise fielen stärker aus als von den Beobachtern erwartet; die größte US-Bank, J.P. Morgan, attestierte den Verbrauchern dabei eine solide finanzielle Gesundheit („fine and on strong footing“). Nimmt man durchschnittliche positive Überraschung zum Maßstab, könnte das Gewinnwachstum im abgelaufenen Quartal auch in der Größenordnung von 7 Prozent landen.
Vor allem aber: Das Gewinnwachstum dürfte den Schätzungen der Analysten zufolge bereits im vierten Quartal wieder kräftig anziehen. Laut Factset stehen die Schätzungen für das vierte Quartal derzeit bei 14,2 Prozent und für das Kalenderjahr 2025 bei 14,9 Prozent.
Expansionsphase könnte andauern
Nach unserer Einschätzung dürfte die Wirtschaft in den USA auch im dritten Quartal 2024 recht solide gewachsen sein. Perspektivisch ist eine zeitweilige Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität möglich, zu einer Rezession sollte es aber nicht kommen.
Offen ist, in welchem Ausmaß der Ausgang der Präsidentschaftswahlen die weitere wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen wird. Die Wahlprogramme enthalten auf beiden Seiten einigen wirtschaftlichen Sprengstoff.
Man darf allerdings die Rechnung nicht ohne den Kongress machen, der gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl ebenfalls (in Teilen) neu gewählt wird. „Gemischte“ Verantwortung würde die Umsetzbarkeit der großen politischen Programme eindeutig erschweren. Wenn die Politik oder andere externe Faktoren nicht dazwischenfunken, kann auch die aktuelle Expansionsphase noch einige Jahre laufen.
